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Dienstag, 22. Januar 2013

Leseprobe: Das Bildnis des Grafen (Kap. 12 / Teil 1)



Diese Szene ist ein Schlüsselerlebnis für den Psychologen Gaspard Renoir, da er danach seinen Patienten in einem anderen Licht sieht. In einem, das ihm gar nicht gefällt...

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Melvin und Lilian warten ungeduldig auf sie. Es hatte den Anschein, als hätten sie kurz zuvor gestritten; Lilians Gesicht war gerötet, während Gilfeather zerknirscht wirkte. Der Besuch erlöste sie, eilig öffnete Melvin die Tür.
In einer Nische blinkte ein mit drei Glaskugeln bescheiden behängter Tannenbaum, der beinahe eine ähnlich jämmerliche Figur abgab wie sein Gastgeber. Man merkte Gilfeather deutlich an, dass er Renoir und Valentine aus Höflichkeit eingeladen hatte. Gut, dass de Langlade frühzeitig abgereist war; ein Abend mit zwei Wissenschaftlern hätte Gilfeather wohl noch mehr eingeschüchtert.
Renoir freute sich über Lilians Anwesenheit, ergriff ihre Hände. Sie schniefte.
„Frohe Weihnachten“, murmelte sie pflichtbewusst. „Schön, dass Sie kommen konnten.“
„Trifft Mallord später ein? Er war doch ebenfalls geladen, oder irre ich mich?“
Auf Renoirs Frage rieb Melvin nervös seinen Nacken. Hilfeheischend suchte er Lilians Blick.
„Er kommt überhaupt nicht“, erklärte sie etwas atemlos. „Gewissermaßen sollte auch ich nicht hier sein, doch er bestand darauf, dass ich mich amüsiere. Wie sollte ich, wenn ich dauernd daran denke, ob ihm nicht etwas fehlt oder er plötzlich ohnmächtig wird? Mallord sagt, er käme alleine zurecht. Aber er überschätzt sich.“
„So schlimm?“ Renoir zog die Brauen hoch. „Vielleicht sehe ich ihn mir mal an, jetzt, wo Hazelgrove unabkömmlich ist. Ich bin kein ausgebildeter Leibarzt, aber dennoch ein wenig geschult in der Physiologie.“
Das Elend der Schwester dauerte ihn, außerdem hätte er sich gerne wieder einmal mit Grimby unterhalten, der ihn offenbar vorsätzlich mied. Er ignorierte Renoir ja schon auf der viel unverfänglicheren Straße. Es mochte mit dem Jungen zu tun haben, dem er ‚zu dessen eigenem Wohl’ nicht über den Weg laufen mochte. Nach dem, wie die Begegnung zwischen dem Gärtner und dem darauf kollabierenden jungen Whitehurst verlaufen war, hielt er diese Vorsicht nicht mehr für banales Geschwätz.
Der Constable segnete sein Angebot mit einem eifrigen Nicken ab. „Das ist eine fabelhafte Idee. Dann wäre Miss Grimby wenigstens etwas entlastet. Das Zepter der Selbstaufopferung lässt sie sich ohnehin nicht aus der Hand nehmen.“
„Es ist nichts Körperliches“, schmetterte Lilian den gutgemeinten Vorschlag ab. „Natürlich auch, neben anderem. Aber ich glaube, ein Ärztewechsel wäre nicht gut für ihn. Wo er sich immer so schnell aufregt, seit er krank ist. Außerdem wird Dr. Hazelgrove während seines Landurlaubs von Dr. Campbell vertreten. Ihm vertraue ich voll und ganz.“
Und mir nicht, folgerte Renoir, er war tatsächlich verletzt von ihrer impulsiven Aussage.
„Sie packt ihn in Watte!“, brauste Gilfeather auf. Das Thema, um das es sich vor ihrem Empfang gedreht hatte, bekam einen Namen. „Er ist doch kein Kind mehr! Sie hat keine Zeit für ihren Job, geschweige denn für Vergnügungen, die schwer arbeitenden Leuten nun einmal zustehen!
Früher, als es Mallord noch gut ging, trafen wir uns oft zum Fünf-Uhr-Tee oder planten Unternehmungen zu dritt. Meine Einladungen schlägt sie allesamt aus. Dass sie heute hier ist, grenzt an ein Wunder. Ständig beschwert sie sich, dass Hazelgrove nur noch mit ihr herumbrüllt, aber wen wundert das bei übermüdeten Angestellten, die bei einem gemeinen Schnupfen aus Versehen eine Morphiuminjektion spritzen? Es ist glattweg zum Verzweifeln: Zuerst die sieche Mutter, und nun der Bruder. Scheint mir, du seist allein zur Samariterin geboren, Lily. Warum lässt du dir nicht ein bisschen unter die Arme greifen?“
„Du bist ein lieber Kerl, Melvin, aber was ich an dir nicht ausstehen kann, ist dein Hang zur Melodramatik. Mallord stellt keine hohen Ansprüche, er ist viel pflegeleichter als Mutter es damals war.“ Die Fingerkuppen an die Schläfen drückend, setzte sich Lilian stirnrunzelnd auf die Otomane. „Ich dachte, wir wollen ein geruhsames Weihnachtsfest feiern. Stattdessen streiten wir uns am Fest der Liebe und Besinnlichkeit. Feine Christen sind wir!“

Als traditionelles Weihnachtsgericht wurde Truthahn und Yorkshirepudding aufgetafelt. Unwillkürlich fragte sich Renoir, ob Letzteres der Kaschrut entsprach, hatte Valentine die Kombination aus Milch und Fleisch doch als verboten klassifiziert. Um sich zu vergewissern, fragte er unter dem Vorwand, ein echter Gourmet zu sein, nach den Zutaten, die Lilian ihm geschmeichelt aufzählte und sogar Zettel und Bleistift herbeischaffte, damit er den Pudding daheim in Frankreich nachkochen konnte. Valentine indes verzehrte seine Portion ohne mit der Wimper zu zucken und bat sogar um eine zweite. Seine Augen nahmen einen sonderbaren Ausdruck an, als sie den Mediziner streiften. Wie man in ihnen studiert, hatte Renoir mittlerweile gelernt. Er sagte nichts. Wahrscheinlich ahnte niemand – mit Ausnahme der Escarays – dass die Familie jüdische Wurzeln hatte und die Religion mitsamt ihren Geboten zumindest dem Anschein nach sehr ernst nahm. Im Grunde wunderte sich Renoir, wie es dem Earl und seiner Frau gelang, unter einem Deckmantel zu leben und an den Wochenenden diskret abgelegene Synagogen aufzusuchen. Er konnte nicht umhin, ihnen dafür heimlich Bewunderung zu zollen.
Der Stuhl neben Valentine war leer, da dieser ursprünglich Mallord Grimby zugewiesen war. Keine bewegende Tatsache, aber Renoir bemerkte, dass der Junge von Zeit zu Zeit verstohlen und fast ehrfürchtig hinüberschielte.
„Ich bin glücklich, dass es Ihnen schmeckt“, frohlockte Lilian. „Wenn Sie wieder ordentlich essen, haben Sie Ihre Krise gewiss bald überwunden.“
Der Constable tupfte sich mit der Serviette den Mund ab; wie Renoir und Valentine war er kein großer Esser. Auf Lilians Ansuchen versprach er, sich später noch einmal aufzutun und tätschelte zufrieden seinen Bauch. „Eine Frau im Haus hat schon ihre Vorteile“, philosophierte er flapsig. Lilian senkte den Blick. Renoir sah sie sanft erröten, wobei sie ein Lächeln hinter den Fingern verbarg. Die Chemie stimmte zwischen der mütterlichen Lilian und dem jungenhaften Melvin, er musste zugeben, dass sie in ihrer Gegensätzlichkeit harmonisierten.
„Ich habe etwas herausgefunden, dass Sie interessieren wird, Doktor. Brühst du uns einen Kaffee auf, Lilian? Schwarz und stark. Das was ich Renoir zu sagen habe, wird ihn umhauen.“
Er machte es spannend, räkelte sich auf dem Stuhl und verschränkte die Arme im Nacken.
„Sprich lauter“, ließ sich Lilian aus der Küche vernehmen, eine Retourkutsche auf seinen auf sie gemünzten Feldwebelton. „Ich denke, das geht mich auch etwas an.“
„Erinnern Sie sich an die Jagdpistole, Dr. Renoir, die Sie als Tatwaffe im Fall der unbekannten Toten vermuten?“
„Ich gab sie Ihnen erst vor wenigen Tagen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn ich mich nicht an sie erinnerte.“
Gilfeather kratzte sich mit einer Schafsmiene am Kopf, während Renoir dem Jungen Feuer gab, der auf einen Verdauungskaffee verzichtete, zu einem weltmännischen Zigarillo aber nicht Nein sagte.
„Stimmt, stimmt, mein Guter.“
Neugierig steckte Lilian den Kopf aus der Küche, das schmutzige Geschirr noch in der Mangel. Der Constable kostete die uneingeschränkte Aufmerksamkeit seines Publikums aus, indem er eine effektvolle Pause einlegte, bevor er umständlich zur Sache kam.
„Nun, was ich und mein Kollege Kavanaugh herausgefunden haben, ist unglaublich ... unbegreiflich! Ich musste ihn bitten, mir die Indizien mehrmals vorzulegen, doch er ist ein Experte auf diesem Gebiet, ihm kann kein Fehler unterlaufen sein. Das Ergebnis teilte er mir erst mit, nachdem er sich völlig sicher war.“
„Und wie lautet das unglaubliche Ergebnis?“, bemühte sich Renoir seinen Redeschwall abzukürzen.
„Ja, das ist es in der Tat. Unglaublich! Nun, um es kurz zu machen: Die Waffe befindet sich nach wie vor in polizeilichem Gewahrsam. Es gibt noch einige Untersuchungen zu klären, doch eines scheint vorläufig, nach dem aktuellen Stand der Dinge ausgeschlossen: Carrick Escaray hat sie nicht abgefeuert, sie vermutlich nicht einmal in der Hand gehalten. Der Abdruck ist nicht identisch mit dem in der Kartei, den der Inspektor kurz nach dem psychiatrischen Gutachten genommen hat.“
„Nein!“
Ein Aufschrei in der Küche ließ die Köpfe der Männer herumrucken. Um ein Haar hätte Lilian den Teller fallenlassen, sie fing ihn gerade noch auf. Renoir starrte Gilfeather an. Seine präzis konstruierte These war mit einem Schlag zerstört.
„Und es besteht kein Zweifel? Wäre ein Abdruck erkennbar, wenn er Handschuhe getragen hätte?“
„Die Möglichkeit ist gegeben“, nickte Gilfeather anerkennend ob Renoirs kriminologischem Spürsinn. „Aber wir konzentrieren uns zunächst auf die sichtbaren Spuren. Die gefundene befindet sich direkt am Abzug, im Gegensatz zu denen, die Sie und Valentine Whitehurst hinterlassen haben. Sie haben die Pistole doch beide angefasst? Das war nicht sehr klug, aber Sie sind nun mal keine versierten Kriminalbeamten. Zur Sicherheit könnte man Sie zur Abnahme der Fingerabdrücke ins Revier laden, aber das wäre reine Formsache.“
Renoir warf einen Blick auf Valentine, der der Enthüllung erstaunlich gelassen beigewohnt hatte. Als er Renoirs Blick auf sich ruhen fühlte, wandte er den Kopf, in seiner Miene war ein Ausdruck von schadenfroher Arroganz.
„Gegen Ihre Vermutung spricht zudem die Tatsache, dass Escaray in ... sagen wir verbrecherischen Sachverhalten nicht besonders gewieft war. Er lebte unauffällig, zurückgezogen und war freundlich zu jedermann. Selbst wenn er das Verbrechen begangen hat – oder sagen wir besser hätte – wäre er nicht so ausgebufft gewesen, an die Handschuhe zu denken. Höchstens es war kalt an dem Tag, aber das glaube ich nicht. Immerhin geschahen die Morde im Frühling. Die Pistole gehörte ihm, weshalb sollte er sie vor Fingerabdrücken bewahren? Am Tatort selbst wurden keine mehr nachgewiesen, nach gewisser Zeit vergehen sie durch die Witterung.“
Ein ungeheuerlicher Gedanke durchzuckte Renoir. Er konnte seine Augen nicht von der Selbstgefälligkeit reißen, mit der Valentine am Tisch saß. Könnte es sein, dass er ...?
Sein Verstand weigerte sich, bäumte sich dagegen auf, doch je mehr er dies tat, desto weniger Zweifel hegte er. Theoretisch hätte es zu einem Handgemenge zwischen Jean-Lucien und Escaray kommen können, bei welchem der Junge ihm die Waffe entwendet hatte. Vielleicht war der Graf derjenige, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, und nicht Valentine. Zufällig oder vielmehr schicksalsträchtig auf Jagd nach einer Wachtel oder einem Rebhuhn durch die Wälder streifend wurde er Zeuge eines handfesten Streites zwischen Eltern und Sohn, versuchte sich couragiert als Friedensrichter, was daran scheiterte, dass der aufgebrachte Junge ihm die Pistole aus dem Gürtel zog und zweimal abdrückte, um seine Eltern zu töten.
Ausgestattet mit einer zweiten Handfeuerwaffe hatte Escaray den Angreifer aus Notwehr verwundet oder Alguire war durch den Lärm herbeigeeilt und hatte Jean gestoppt, indem er ihn in die Hüfte schoss. Daraufhin sank der Junge in Ohnmacht; Escaray und Alguire überlegten, wie sie die Leichen beiseite schaffen sollten, da ihnen klar war, dass der Verdacht der Tötung auf sie fallen würde.
Überdeutlich sah Renoir diese Szene vor sich. Den ratlosen Alguire, den verbissen an seiner Baudelaire ziehenden Escaray und den bewusstlosen Knaben vor den getöteten Eltern, die sie nach reiflicher Überlegung vergruben.
Allerdings ergab es überhaupt keinen Sinn. Falls Jean seine Eltern so sehr gehasst hatte, weil sie ihn in eine fremde Welt geschickt hatten, namentlich ins Schweizer Internat, dann war der jetzige Valentine ein verflixt guter Schauspieler, dem die Amnesie auf den Leib geschneidert war, möglicherweise gar von seinem Onkel, dem Regisseur in einer infamen Tragödie.
Aber eines müsste man Valentine zugute halten. Er hätte nicht gelogen: Escaray wäre nicht der Mörder.
Benjamin Whitehurst, zu dem er nach seiner Genesung geflohen war (dass der Graf ihn gepflegt hatte, wusste er dank der Hypnosesitzung hundertprozentig), hatte seinen Neffen gedeckt. Indem er ihn in den Krieg geschickt hatte, sollte Gras über die Sache wachsen und von ihm als Täter ablenken.
Die ganze Vorgeschichte mit der ‚Lusitania’, Jeans Ahnungslosigkeit und seine Trauer gehörten zum Drama, das der Earl inszenierte. Aber warum? Glaubte er, seinen Neffen damit vor der Obrigkeit zu schützen?
Valentines durch den Krieg bedingte psychische Störungen waren jedenfalls nicht gespielt.

Dennoch spürte Renoir Ärger in sich aufsteigen. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte Valentine an der Gurgel gepackt, um ein Geständnis aus ihm herauszupressen.
„Er könnte seinen Butler angestiftet haben“, grübelte er, doch es war nur der klägliche Versuch, seine althergebrachte Theorie wiederzubeleben.
„Patrick?“ Vom hohen Ross lächelte Gilfeather an der Nase entlang auf ihn herab. „Der hat geschossen wie ein Anfänger, und das nicht erst, seit er plemplem ist. Nein, ausgeschlossen.“
„Ich werde mir Hazelgrove noch einmal vorknöpfen. Er müsste Escaray doch von allen hier am besten kennen. Schließlich hat er ihn vor und nach seinem Aufenthalt auf Whitehurst erlebt und somit eine gewisse Veränderung beobachtet.“
„Heute möchte ich kein Wort mehr darüber hören!“, kappte Lilian die Diskussion und siedelte mit einer Schüssel voll Krapfen ins Wohnzimmer über, wohin ihr die Männer folgten. „Schließlich ist Weihnachten und somit das Fest der Freude. Dass Carrick nicht der Mörder ist, wissen ja wohl alle Anwesenden. Und du, mein lieber Melvin, sprich nicht so abfällig über deine Mitmenschen.“
Mit der Bezeichnung ‚alle Anwesenden’ schloss sie auch Valentine mit ein, was voraussetzte, dass sie über ihn im Bilde war. Wieso kam er sich plötzlich wie ein Idiot vor, glaubte, dass sie alle wussten, was gespielt wurde und ihn vorsätzlich im Dunkeln tappen ließen? Als wären sie Statisten in Whitehursts Stück, in das er – Renoir – hineinstolperte ohne seinen Text zu kennen.
Lilian schlug eine Bibel auf und las die Geschichte der Geburt Jesu nach Lukas vor. Valentine, der sie vermutlich zum ersten Mal hörte, lauschte andächtig und faltete sogar die Hände im Schoß. Das Licht des Bäumchens spiegelte sich auf seinen scharfen Zügen wider. Es war schwer zu sagen, was er dachte.
Die Geschichte klang auch für Renoir wie ein Märchen, aber in Valentine weckte sie Verständnis. Jeder sehnte sich doch nach jemandem, der die Schuld des Einzelnen und der Welt auf sich lud. Nach christlicher Glaubenslehre war das der Zimmermannssohn Jeschua.
Während Renoir ihn beobachtete, tat ihm sein innerer Aufruhr leid. Schwer denkbar, dass hinter diesem Jungengesicht der kaltblütige Verstand eines Elternmörders stecken sollte.
Später sangen sie ‚Stille Nacht’. Zu Renoirs Verwunderung zierte sich Valentine nicht, obwohl er nichts zur vorigen Unterhaltung beigetragen hatte. Da er die englischen Strophen nicht beherrschte, teilten sie die Verse in Englisch und Französisch ein. Melvin und Lilian intonierten die englischen Zeilen, derweil Renoirs volltönender Bariton von Valentines klarer Stimme begleitet wurde.
Als Renoir seine Taschenuhr konsultierte, war es weit nach Mitternacht. Gilfeather bot ihnen eine Übernachtung an, aber Renoir behagte der Gedanke an eine Nacht in der engen, improvisierten Bude nicht, und er schlug die Offerte zu Gilfeathers stiller Erleichterung aus. Der Weg zum Schloss musste einiges klären, das ihn beschäftigte.


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