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Samstag, 26. Januar 2013

Leseprobe: Das Bildnis des Grafen (Kap. 12 / Teil 2)



Nachdem Renoir einen Verdacht gegen seinen Patienten Valentine hegt, beschließt er, diesen damit direkt zu konfrontieren.

Achtung: Dieser Ausschnitt enthält einen sogenannten Spoiler!

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„Wo haben Sie christliche Lieder gelernt?“
Keuchend kletterten sie die Anhöhe nach Escaray Hall hinauf, Valentine zeichnete sich vor Renoir wie eine Silhouette aus einem Scherenschnitt ab.
„Auf dem Internat“, sagte er, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt. „Ich habe mich prächtig unterhalten. Es war mein erstes Weihnachtsfest im kleinen Kreis, fast wie in einer Familie. Danke, dass Sie mich nicht verraten haben. Einen Moment sah es so aus. Sie wollten mir den Pudding ausreden, richtig?“
„Er war nicht koscher“, gab Renoir zurück.
Der Junge lachte. „Sie haben gut aufgepasst. Aber es ist mir gleichgültig. Ich will keine Zwänge mehr.“
Das war Renoirs Stichwort. „Zwänge, die Ihnen Ihre Familie auferlegte?“
Der Atem des anderen stockte, er verharrte und drehte sich halb zu Renoir um. „Pardon?“
Renoir packte Valentine am Arm. „Schluss mit dem Theater! Sie haben mich gut verstanden! Erzählen Sie mir von Ihrem grässlichen Elternhaus, von Vater und Mutter, die Ihre Schwester mehr mochten als Sie! Und wie sehr Sie sich zurückgesetzt fühlten durch den Entschluss Ihres Vaters, Sie an einer weltlichen Hochschule anzumelden. Sie sehnen sich nach Zuneigung, aber auf diese Weise werden Sie sie nie erhalten. Das nennt man krankhafte Eifersucht, Jean.“
„Sie sind ja betrunken“, murmelte Valentine. „Und Sie haben versprochen, mich nicht so zu nennen.“
„Jean-Lucien ist nun mal Ihr richtiger Name“, rief Renoir. Er hatte erwartet, die kalte Nachtluft blase Klarheit in seinen Schädel, aber die Scheinheiligkeit des Jungen machte ihn rasend. Plötzlich war er von seiner neugewonnenen These vollkommen überzeugt.
Abermals schüttelte er ihn und ließ ihn dann abrupt los, so dass Valentine zu Boden stürzte, sich beim Abfangen die Handballen an einem spitzen Stein aufriss und sich einen Schmerzenslaut verbiss.
„Sie stecken mit Ihrem Onkel unter einer Decke! Sie versuchen, mich zu blenden! Aber ich lasse nicht mit mir spaßen, Jean! Dafür ist die Lage, in der Sie sich befinden, viel zu ernst. Nach dem Gesetz waren Sie noch ein Kind und daher vermindert schuldfähig! Wenn Sie geständig sind, wird man Ihnen einen fairen Prozess machen.“
Valentine zwinkerte verständnislos, ein nervöser Tick in seinem Gesicht ließ seinen Kaumuskel mahlen. „Geständig? Worüber?“
Jetzt platzte Renoir der Kragen. „Sie haben Ihre Eltern umgebracht, und Sie hätten auch Escaray getötet, haben es vielleicht sogar getan und seine Leiche irgendwo versteckt, wo man sie nicht findet! Weil Ihr Vater ein Waschlappen ist und sich herausstellte, dass Ihr ‚Retter’ es ebenfalls war! Was Sie brauchten, war ein Vater wie Benjamin Whitehurst, jemand, der Ihrem kriegerischen Naturell entspricht und Sie dementsprechend formt. Hat er Sie nicht nach Nordfrankreich geschickt? Oh, er sagt, es wäre allein Ihre Idee gewesen, denn das, was dabei herauskam, war nicht in seinem Sinne, gehörte nicht zur Taktik. Darum musste ich auf den Plan treten und ein paar Abrakadabras über Sie sprechen. Aber so einfach und schnell ging es dann doch nicht, deshalb fasste Ihr Onkel den Entschluss, in Schottland zu warten, bis ich Erfolge an Ihnen verbuche. Ich will Ihnen etwas sagen: Er kann dort meinetwegen versauern! Ich reise ab! Sie sind tatsächlich krank, doch wer Hilfe sucht, muss ehrlich zu sich und anderen sein. Um Ihre Eltern trauern Sie genauso wenig wie um Pauline, die in Ihrem Leben stets die Rolle der Rivalin eingenommen hat.
Sie spielen mir etwas vor, und – Chapeau! – das so überzeugend, dass ich Ihnen beinahe geglaubt hätte!“
Entsetzt riss Valentine den Mund auf, er rappelte sich hoch und hielt Renoir fest, der im Begriff war, an ihm vorbeizustapfen. Mit einer Passivität, die ihm selbst fremd war, starrte der Arzt auf Valentine hinunter.
„Bitte hören Sie mich an! Ich kann nicht verlangen, dass Sie mir glauben, aber hören Sie wenigstens zu! Ich hätte nie ein Gewehr auf meine Familie richten können, abgesehen davon, dass ich doch gar keines besaß. Ich liebte sie von ganzem Herzen, und das tue ich noch!
Onkel Benjamin hasse ich für das, was er mir angetan hat in der Zeit nach meiner Heimkehr und Jahre zuvor Carrick Escaray. Aber mein Vater – ich habe Ihnen doch von ihm berichtet. Er war ein Mann, in dessen Fußstapfen zu treten sich jeder wünscht. Freilich verfügte er nicht über denselben religiösen Fleiß wie Onkel Benjamin, und ja, er war in mancher Hinsicht vielleicht zu weich mit uns Kindern, aber Mutter sorgte für eine anständige Erziehung. Bevorzugt wurde keiner, und wenn doch, so war ich es als der Jüngere. Ich hatte nie Grund zur Eifersucht, meine Schwester liebte mich, und ich liebte sie.
Wir wuchsen ganz normal auf, und es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Junge aus großbürgerlichen Verhältnissen in eine Eliteschule geht. Damals freute ich mich darauf. Aber nicht, weil ich meine Eltern nicht mehr sehen wollte, sondern weil Vater mir erklärte, dass Reisen die Erfahrung und Kultur erweitert.
Dass meine Herkunft ein Ärgernis für einige auf dem Internat sein könnte, ahnte ich nicht. Irgendwann hielt ich es dann nicht mehr aus, und ich schrieb Vater, wie gern ich wieder zurückkäme nach London, das ich gar nicht sehr mochte. Doch alles wäre besser als weiterhin die Zielscheibe von Spott zu sein. Ich habe lange so getan, als seien mir die Hänseleien gleichgültig, weil ich die Spötter auf Anraten meines Vaters auf keinen Fall provozieren sollte. Doch es wurde immer schlimmer. Auf die Unterstützung der Lehrer durfte ich nicht hoffen; es galt als feige, die Mitschüler anzuschwärzen. Überdies hätte man mich nicht ernstgenommen. Ich war ein Außenseiter, der selbst schuld war, dass er anders ist.
Bald kam ein Brief von meinen Eltern. Sie schrieben, dass Onkel Benjamin uns alle auf seinen Landsitz in Yorkshire eingeladen hatte und er sich freuen würde, auch Pauline und mich kennenzulernen. Das war wie eine Erlösung. Vater versprach, mich danach nicht wieder zurückzuschicken. Ich muss also dagewesen sein, auf Whitehurst. Und ich habe etwas gesehen, das mir die Erinnerung geraubt hat, um die ich kämpfen will. Mit Ihnen. Ich hätte Sie doch nicht um die Hypnose gebeten, wenn ich wüsste, dass ich meine Familie ausgelöscht habe! In einer Hypnose kann man nicht lügen, oder? Lassen Sie es uns noch einmal probieren, ehe sie mich verurteilen! Ich will nicht, dass Sie so schlecht über mich denken!“
Er brach ab und wandte sich um, die Augen übermüdet mit fünf Fingern reibend. Langsam schritt Renoir um den Jungen herum, bis er ihm wieder gegenüber stand. Das Argument, in dem er die Hypnose anführte, hatte ihn milde gestimmt. Valentine fürchtete sich davor, und trotzdem unterbreitete er sie Renoir. Er hob behutsam Valentines Kinn an.
„Ist gut, Valentine. Ich muss gestehen, dass mir der Wein wirklich zu Kopf gestiegen ist. Wir werden nach Hause gehen, eine Nacht überschlafen und dann in Ruhe darüber sprechen.“
„Nicht nur sprechen“, negierte der Junge. „Ich vertraue Ihnen. Ich möchte es noch einmal versuchen. Kein positives Erlebnis diesmal.“
Schweigend stiegen sie weiter voran. Es schneite nicht mehr, doch die Kälte hatte den verbliebenen Altschnee zu Eis gefrieren lassen. Vorneweg lavierte Renoir, begradigte Valentine den Weg als Geste der Vergebung für seine unbedachten Anschuldigungen.
„Was hatte es mit dem leeren Stuhl neben Ihnen auf sich? Mitunter spähten Sie hinüber, als säße dort jemand.“
Ein wenig verlegen zuckte Valentine die Achseln. „Ihnen bleibt nichts verborgen, Gaspard.“
„War es Carrick Escaray?“
„Nein. Er ist doch nicht unsichtbar. Ich kann es schlecht erklären. Eine Sache der Gewohnheit, nehme ich an. Bei uns sagt man, dass auf leeren Stühlen der Prophet Elias Platz nimmt, der bei Beschneidungen als Ehrengast zugegen ist aufgrund seines Eifers für den Bund mit dem HErrn, der bei der Berit Milah bekräftigt wird. Doch in unserem Haus lud ihn Mutter auch am Schabbat und den übrigen Feiertagen ein. Seitdem sitzt auf leeren Stühlen der Prophet Elias. Ich hatte Angst, ihn zu verärgern, indem ich von dem Pudding aß.“ Er lächelte. „Es ist töricht, aber es steckt in mir, seit ich denken kann.“

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