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Donnerstag, 21. März 2013

Appetithappen "Ausnahmsweise Doppelgleisig"

In Kürze werde ich meinen fünften Roman veröffentlichen (Termin vermutlich Anfang April), in dem es um Branko Schuster - einen erfolgreichen Münchner Unfallchirurgen - und seinen Schutzengel geht, der sichtbar wird. Von höchster Stelle wurde entschieden, dass Branko himmlischen Beistand nötig hat, da es in seiner Ehe gewaltig kriselt.



 Der Engel Seraphin ist allerdings nicht befugt, in die Geschehnisse einzugreifen bzw. sie zu verändern - er kann nur Impulse geben, um den freien Willen der Menschen nicht zu beeinflussen. So nistet er sich bei dem anfangs skeptischen Branko ein und sorgt für Turbulenzen, die weder von ihm selbst noch von seinem Auftraggeber beabsichtigt waren.

In der folgenden Leseprobe sorgt Seraphin erst einmal für klare Verhältnisse unter Kollegen.



Kapitel 4


Der restliche Vormittag verlief ohne größere Unfälle. Ein aufgeschrammtes Kinderknie, eine überdehnte Sehne, nichts Nennenswertes. 

Der OP wurde nicht genutzt, nachdem man den unseligen Herr Bäumler in die Pathologie überführt hatte. Branko konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass sein zweiter Schatten dahintersteckte, wenn er auch nicht sicher war, wie er das bewerkstelligte. Wohin er auch ging oder man ihn rief, Seraphin blieb in seiner Nähe und verlor kein einziges Mal das aufmunternde Lächeln, sobald ihre Blicke sich trafen. 

Besonders auf kleine Patienten übte Seraphins unaufdringliche Gesellschaft eine nahezu therapeutische Wirkung aus; er saß nur da und zwinkerte ihnen zu, und sofort verwandelten sich die greinenden Gesichtchen in ein einziges Strahlen der Glückseligkeit. Ähnlich hatte auch Jana reagiert, obwohl es stimmte, was Tino über ihren Charakter hatte verlauten lassen. Sie war ein vorsichtiges, fast ängstliches Kind, das Fremden erst einmal die kalte Schulter zeigte und sie damit nicht selten brüskierte. Zu Seraphin hingegen hatte sie für ihre Verhältnisse bereits bei der ersten Begegnung zarte Bande geknüpft, worüber niemand erstaunter war als Branko selbst.

Gegen Mittag durchforstete er die Kantine und den Aufenthaltsraum nach Caro, er war drauf und dran, sie per Lautsprecher in sein Büro zitieren zu lassen, weil sie nirgends aufzutreiben war. Wie vom Erdboden verschluckt. Seraphin betrachtete ihn kummervoll. „Die Caro ist weg“, erklärte er das Offensichtliche, als Branko ihn wie selbstverständlich nach ihr fragte. Um Worte war Seraphin nie verlegen, soviel hatte er in der Zwischenzeit begriffen. „Sie wollt’ doch kündigen.“

„Das hat sie wirklich getan?“ Ungläubig starrte er Seraphin an. „Schaut ihr gar nicht ähnlich, Nägel mit Köpfen zu machen.“

„Vielleicht ist’s besser so“, tröstete Seraphin ihn auf dem Weg zur Essensausgabe. „Ihr habt so wenig gemeinsam. Auf Dauer geht so was selten gut.“

„Ach. Da spricht der Experte, was?“ Der Sarkasmus in seinem Ton war nicht zu überhören, als er sich zu seinem Wiener Schnitzel zwei Ladungen Kartoffelbrei auf den Teller schöpfte und nach einem freien Tisch Ausschau hielt.

„Du hast sowieso nicht vorg’habt, sie zu heiraten, oder?“

„Ja sag amal...“ Branko schnappte nach Luft. „Wir leben doch nicht im Mittelalter. Wenn’s aus ist, dann soll’s so sein, aber doch nicht jetzt! Solang sie mir gefällt, ist unsere Affäre doch kein Verbrechen!“

„Nicht? Dann überleg’ mal, auf welcher Basis du sie kennengelernt hast. Sie schwärmt für deine Fertigkeit als Chirurg, du repräsentierst was für sie und umgekehrt sie für dich, was ihr beide von euch selber nicht haben könnt. Du die Erfahrung, sie deine Jugend. Aber die ist passé, und ihre Erfahrungen muss die Caro selber machen. Dass sie sich davor drückt, indem sie sich als dein Anhängsel produziert, hat mit Liebe wenig zu tun. Eher mit Bequemlichkeit.“

„Wie redest du denn mit mir?!“ Er zerknüllte nervös den Pappbecher und verbrühte sich den Mund am üblicherweise lauwarmen Kaffee.

„So wie schon lang mal jemand mit dir hätt’ reden müssen. Du bist nämlich auch nicht fehlerfrei. Irgendwie hat sie schon recht gehabt, die Caro. Ein Macho bist, und das nicht zu knapp. Sie fühlt sich nicht ernst genommen von dir, und auf der anderen Seite erdrückst du sie mit deiner Fürsorge, von der du annimmst, dass es Liebe ist. So ein kleines Hascherl, das braucht eine starke Hand, gell? Ich glaub, du unterschätzt sie. Traust ihr zu wenig zu.“

„Na gut, und was soll das alles? Was muss ich tun, um sie wiederzukriegen?“

„Nix. Lass sie einfach in Ruh. Du bist ein verheirateter Mann! Deine Frau verzeiht dir, aber du musst schon was tun dafür, verstehst? So ein Seitensprung, den kehrt man nicht einfach untern Tisch. Branko!“ Emphatisch griff er über den Tisch und hielt Brankos Hand fest. Branko fröstelte. Die Berührung ging ihm unter die Haut und sandte trotzdem paradoxerweise Trost aus. „Du willst doch nicht enden wie der Herr Bäumler heut’ morgen, oder? Hinter jedem Weiberrock hersteigen und mit Erreichen vom Ruhestand in die Grube fahren!“

Neuhausen wehte in die Cafeteria und winkte ihnen zu. Mittlerweile hatte er sein Dauergrinsen wieder angeknipst und in seine gefälligen Züge eingegraben. 

„Ist noch ein Platzerl frei bei euch?“

„Ich wart’ auf den Tino“, versetzte Branko sauertöpfisch. „Also nein.“

„Der isst doch immer pünktlich um halb zwei“, schmunzelte Neuhausen und zog dickfellig einen Stuhl heran. Verwundert pendelte sein Blick zwischen den ineinandergeschlungenen Männerhänden hin und her, Branko zog seine zurück. 

„Stör’ ich? Schiebst nachher ein flottes Nummerchen zu dritt? Alle Achtung! Apropos. Warum stellst du mich deinem neuen Freund denn nicht vor? Oder spricht er unsere Sprache nicht? Ich hab Sie heut’ früh in der Notaufnahme gesehen, gell?“ Zähneknirschend schüttelte er den schwarzhaarigen Kopf, er trug das Haar kragenlang wie ein alter 68er. In Berlin hatte damals der Bär gesteppt, war einer seiner meiststrapazierten spitzfindigen Ergüsse an Wortakrobatik. Allerdings hatte er während besagter Ära schon fünfzehn Jahre in Bayern gelebt. 

„Das war eine unschöne Geschichte, das. Unschön, wirklich. Hätt’ sich vermeiden lassen müssen.“

„Der Mann war nicht zu retten“, erklärte Seraphin ernst. „Sie dürfen Branko keine Vorwürfe machen.“

„Oh! Sie sind ein Kollege! Dann entschuldigen Sie bitte! Nichts liegt mir ferner als seine Kompetenzen anzuzweifeln.“

„Das haben Sie aber“, insistierte Seraphin, Branko lehnte sich zurück und machte entsprechende Zeichen, sich nicht auf eine Debatte einzulassen, die ohnehin für die Katz war. Doch Seraphin geriet ordentlich in Fahrt, er verteidigte ihn so leidenschaftlich, dass ihn Branko unterm Tisch ans Schienbein stieß, was er jedoch vor lauter Ärger über die Ungerechtigkeit nicht realisierte. Seine Stimme indes harmonisierte in keiner Weise zu seinem Plädoyer für Branko, sie klang monoton, klar und unaufgeregt. 

„Da Sie gemeinhin als liebenswerter Spaßvogel bekannt sind, Herr Dr. Neuhausen, drückt man bei Ihnen gerne mal ein Auge zu, was ja ganz ok ist. Denken Sie nicht, ich habe etwas gegen Humor und Witze erzählen am Arbeitsplatz, aber wie schaut das denn mit Missgunst und Ausländerfeindlichkeit aus?“

Mit großen Pupillen stierte Neuhausen in Seraphins, es war, als spießten sie sich gegenseitig buchstäblich auf. Das Unbehagen war Neuhausen deutlich anzumerken, er scharrte mit den Füßen und hätte sich wohl am liebsten aus dem Staub gemacht, doch er schien wie festgenagelt und nicht fähig, den Blick von Seraphins Augen abzuwenden.

„Wie?“ hakte er schleppend nach, völlig gebannt durch den intensiven Blickkontakt. „Worauf wollen Sie hinaus? Ich hab’ nicht den leisesten Schimmer... ist das auf deinem Mist gewachsen, Branko?“

Branko schüttelte den Kopf. Was Seraphin im Schilde führte, versprach spannend zu werden. Der quirlige Kollege war Wachs in seinen Händen. „Ich hab ihm nichts erzählt“, sagte er beiläufig.

 Neuhausen schluckte, auf seiner hohen Stirn glänzte Schweiß. Unbeeindruckt von der Bredouille, in der sich sein Gegenüber wand, fuhr Seraphin fort: „Sie mimen den netten Kumpel für jeden auf der Station, aber insgeheim zerfrisst Sie der Neid auf Ihren Vorgesetzten. Auf Branko Schuster. Weil er fleißiger ist und besser mit Dr. Wolf auskommt als Sie. Sie wollen schließlich auch gefallen, aber da ist immer der Jugo, der Kanake, der Ihnen die Butter vom Brot nimmt. Immer ist er Ihnen eine Nasenspitze voraus. Das ist aber kein Wunder, denn Sie sind nun mal nicht so wissbegierig wie er.“

„Finn!“ zischte Branko mahnend und stupste ihn abermals unter dem Tisch. „Hör’ auf!“ Die Schimpfwörter, mit der er ihn eben beschrieben hatte, taten weh, und er konnte sich nicht vorstellen, dass der allseits beliebte Neuhausen sie auch nur dachte. Gut, ihr Verhältnis zueinander war von Distanziertheit geprägt, aber weiter brauchte eine Arbeitsbeziehung unter Männern auch nicht hinausgehen. Obendrein hatte Branko nie Feindseligkeit von Neuhausen zu spüren bekommen. Brodelte es tatsächlich unter der friedfertigen Oberfläche, wie Seraphin implizierte? Und das nur, weil er nicht in Deutschland geboren war? Sein Vater war Deutscher gewesen, jedoch mit seiner Mutter nach Split gezogen. Erst in den sechziger Jahren hatte der Vater eine Anstellung in München angeboten bekommen und die Familie nachgeholt. 

Er warf einen vorsichtigen Blick auf seinen Kollegen. Dessen kräftige Augenbrauen zogen sich zu einem Strich zusammen, er befeuchtete seine Lippen. In seiner Mundhöhle breitete sich Trockenheit aus, so dass er leicht hüstelte. Branko bemerkte die feuchten Fingerabdrücke auf der Papierserviette. Seraphin hob kurz die Hand, um anzudeuten, dass er noch nicht fertig war. 

„Das wär ein bisschen leichter zu ertragen, wenn’s ein deutscher Arzt wär’, nicht? Dann wär’ er Ihnen wenigstens ebenbürtig, aber so stammt er ja aus einem unzivilisierten Land, in dem Kriege herrschen und viele Leute weder lesen noch schreiben können. Denken Sie doch mal ein wenig zurück, ein kleines bisschen bloß, und Sie werden mit Erstaunen feststellen, dass es in Ihrem hochgelobten Deutschland bis vor sechzig Jahren noch ganz ähnlich aussah. Schlimmer sogar, weil die Menschen sich zu etwas haben hinreißen lassen, was ganz Europa zerstört hat. Fremde Menschen mit fremder Kultur, Herr Neuhausen (er mied die respektvolle Titelanrede), sind in jeder Hinsicht eine Bereicherung. Sie zu verachten oder ihnen das Leben schwerzumachen ist genauso eine große Sünde wie die Ausrottung der vielen Millionen Menschen in Ihrem Dritten Reich. Damit stellen Sie sich auf dieselbe Stufe wie Ihren sogenannten Führer. Und eines sage ich Ihnen, Herr Neuhausen: Wenn Sie es wagen, Branko bei Dr. Wolf-Horvath anzuschwärzen, indem Sie Lügen über ihn verbreiten und Ihre eigene Nachlässigkeit von heute morgen unter den Tisch kehren, werde ich die Sache geraderücken. Und das wird Konsequenzen für Sie haben. Ihre hinterhältige Art vergiftet das Klima nicht nur unter Ihnen beiden. Der Mann wäre ohnehin gestorben, aber Sie hätten sich ruhig ein bisschen mehr Mühe geben können und sich nicht wie jedes Mal auf Dr. Schuster verlassen, der Ihnen die Kastanien aus dem Feuer holt. Denn im Gegensatz zu Ihnen erledigt der seinen Job gewissenhaft.“

Branko senkte resignierend den Kopf auf die Tischplatte. Er war ruiniert. Jetzt hatte Neuhausen allen Grund, ihm das Leben zur Hölle zu machen, ihn zur Frührente zu mobben! Er musste ja denken, Branko hätte es seinem neuen Freund so erzählt, ihn verpetzt. Und das, wo er Ressentiments dieser Art nie an Adrian Neuhausen entdeckt hatte. Zu Meinungsverschiedenheiten kam es natürlich häufig, dabei war jedoch niemals ein böses Wort über seine Herkunft gefallen. So primitiv schätzte er Neuhausen nicht ein. Aber war vielleicht doch etwas dran an Seraphins abenteuerlicher These, hatte Neuhausen zwei Gesichter, eines, das scherzte und herumalberte, und eines, das sich vor Hass verzerrte, sobald Branko ihm den Rücken kehrte?

 Jedenfalls war Branko überrascht, als er ein leises Ächzen vernahm. Abrupt hob er den Kopf. Neuhausens Unterlider waren geflutet. Der lustige Prahlhans heulte wie ein Schlosshund. „Das wollte ich nicht!“ versicherte er. „Es tut mir leid! Es stimmt, ich war ungerecht, und ich habe Branko nie gemocht, und das nur weil er anders ist als ich! Ich habe den Kollegen und Dr. Wolf unschöne Dinge über ihn und die Lehrschwester erzählt, weil ich gehofft habe, er entlässt ihn dann! Außerdem war ich ja selber scharf auf die Frau Cremer! Das war eine billige Masche und sehr selbstsüchtig, ich seh’ es jetzt ein! Ich muss dich um Entschuldigung bitten, Branko! Sie ist es nicht wert, angenommen zu werden, aber wenn du großzügig bist und ein Herz hast, dann gestattest du mir, es wiedergutzumachen!“ 

Seine Reue war echt und nicht gespielt, obwohl man das bei einem Showtalent wie Adrian Neuhausen nur schwer beurteilen konnte. Tränen auf Knopfdruck jedoch wäre zuviel des Guten. Zudem sagte ihm Seraphins Blick, dass er es ehrlich meinte.

Etwas verlegen, weil die Tischnachbarn schon schauten, tätschelte er seinen Arm. „Ist schon gut, Adrian. Ich verzeih’ dir. Brauchst nichts wiedergutmachen. Wir sind doch ein gutes Team, hm?“

„Ach, Branko!“ Neuhausen schluchzte auf, während er nach dem Taschentuch fingerte, das Branko ihm reichte und schnäuzte lauthals hinein, bevor er das Gesicht an Brankos Brustbein barg. „Hast du den Plumps gehört? Mir fiel soeben ein Herz vom Stein!“

Pikiert entzog sich Branko seiner Umklammerung. „Schön. Lässt mich jetzt dann bitte zu Ende essen?“

Nach einem Seufzer der Erleichterung und einem anschließenden liebevoll gemeinten, aber schmerzhaften Stoß an Brankos Schulter mit den Fingerknöcheln entfernte sich Neuhausen. 

Konsterniert wandte sich Branko an Seraphin, der an seiner Apfelschorle nippte, als sei nichts gewesen. „Woher hast’n das gewusst? Hast du irgendwelche hellseherischen Fähigkeiten? Ich hab das immer für Mumpitz gehalten, aber man soll ja nie nie sagen... Des war mir selber ganz neu, dass der Neuhausen sich mit rassistischem Gedankengut rumschlagt. Der hat doch eine Visage wie ein Baby.“

„Grad die sind oft gefährlich“, versetzte Seraphin gleichmütig. „Vergiss aber nicht, dass du in eurer Beziehung auch Zugeständnisse machen musst, wenn’s langfristig funktionieren soll. Dass der Neuhausen aus Berlin kommt, dafür kann er ebenso wenig wie du für deinen Geburtsort.“

„Hmmm...“ brummelte Branko. „Und du hast schon wieder das Essen vergessen. Ist das nicht üblich, da wo du herkommst? Weiß nicht, ob ich dich dann je besuchen möcht’ und deine Kultur eine Bereicherung ist.“ Er stand auf und schlenderte zur Theke, um für Seraphin ein Menü zusammenzustellen. Der Sinn fürs Praktische ging dem klugen Engel nämlich vollkommen abhanden. 

Auf dem Rückweg brach er plötzlich in Tränen aus und schämte sich. Weniger seiner Gefühlsaufwallung als der Erkenntnis, dass er nicht besser war als Neuhausen. Wie oft hatte er dessen unbeschwerten Charakter beneidet und gleichzeitig verflucht!

 Rasch stellte er das Tablett auf den Tisch und verschwand in der Toilette. Vor den Kabinen erwartete ihn Seraphin, die Arme vor der Brust verschränkt, die Hüften leicht vorgeschoben, als stünde er schon eine ganze Weile da. Aber das war doch unmöglich! 

Branko hatte gar nicht bemerkt, dass er nicht mehr an seinem Platz saß; tatsächlich hätte er Stein und Bein geschworen, ihn dort noch vor zehn Sekunden gesehen zu haben. Verschwommen zwar, aber es war eindeutig Seraphins unverwechselbar hünenhafte schlanke Gestalt gewesen. Verlor er allmählich den Verstand? 

„Du brauchst dich nicht zu schämen, Branko“, beruhigte ihn Seraphin. „Du hast Fehler wie jeder Mensch. Verrückt bist du auch nicht.“

„Wer bist denn du?“ hauchte Branko und trat einen Schritt zurück. „Was ist das für ein zwielichtiges Spiel, das du da treibst?“

„Ich spiele nicht. Dafür ist die Sache viel zu ernst. Ich bin hier um zu helfen. Aber scheinbar kann ich dir das hundertmal sagen, du willst mir ja nicht glauben. Darum zeig’ ich dir’s halt.“

„Indem du meinen Kollegen bloßstellst?“ Verflixt, seine Augen waren verräterisch gerötet, er gab keine vorteilhafte Figur ab, wie er sich so flüchtig im Spiegel betrachtete. Sicher kannte der Mann vor ihm den Grund. So wie er alles erkannte und durchschaute. Unheimlich war das, regelrecht gruselig.

„Das war nötig“, parierte Seraphin. „Irgendwann hätte er es dich spüren lassen. Und lange hätte dein geschätzter Dr. Wolf nicht mehr durchgehalten. Dein Kollege hat ihn mürbe gemacht mit seinen ständigen, aber haltlosen Anschuldigungen gegen dich. Bald hätte ihm deine Abstammung als Kündigungsgrund genügt.“

„Dem Theo?“ Vor Bestürzung klappte sein Kiefer herunter. Seraphin stieß sich vom Spülbecken ab und nickte. Dicht vor Branko blieb er stehen. Auf seinem Kinn spross immer noch kein Härchen, obwohl er ihn nicht mit einem Rasierapparat hatte hantieren sehen. Überhaupt war es merkwürdig, dass er kein Gepäck bei sich trug. Keinerlei Habseligkeiten bis auf die Kleider am Leib. Bevor er ihn spontan danach fragen konnte, räumte Seraphin seine Zweifel bezüglich des unbescholtenen Dr. Wolf-Horvath beiseite.

„M-hm. Damit er sich nicht immer und immer wieder von Herrn Dr. Neuhausen piesacken lassen muss. Wenn’s um das eigene Wohl geht, zählen Professionalität und Einsatzvermögen von guten Leuten wenig.“

„Und woher weiß ich sicher, dass damit jetzt Schluss ist? Ich mein’, ich brauche meine Arbeit... allein der Unterhalt für meine Tochter, die Miete...“

„Keine Sorge. Der Neuhausen ist ein für alle Mal kuriert von seinem Fremdenhass.“

Ein älterer Mann, den Branko als früheren Patienten identifizierte, betrat die Toilette und runzelte die Stirn. „All’weil nur Eane Gaudi im Kopf. Und dann a no’ mit am Mannsbuid! Pfui Deifi sog i“, grantelte er und ließ die Pissoirs demonstrativ links liegen, um sich wie zum Schutz vor Brankos Ausschweifungen in einer Kabine einzuschließen.

„Besser als gar keinen hochkriegen, gell, Herr Finkelmayr?“ spöttelte Branko ihm nach. Diesmal war es Seraphin, der rügte. „Branko! Der Herr Alois Finkelmayr hat ein sehr aktives Sexualleben.“

Das Lachen darüber, dass er es gar nicht so genau hatte wissen wollen, blieb Branko im Hals stecken, als er gewahr wurde, dass Finkelmayrs Schlafzimmer wahrscheinlich nicht das einzige war, in dem sich Seraphin heimisch fühlte. Wer konnte sagen, wie oft er ihn bereits bespitzelt hatte, da er doch ‚zu ihm gehörte’. Wenn nicht direkt vor Ort, dann vielleicht diskret mit dem Fernglas. Der Gedanke ließ ihn schlottern, er spürte, wie ihm die dalmatinische Küstenbräune aus dem Gesicht sackte. 

„Woher...?“

„Och“, sagte Seraphin leichthin. „Wir gehen in derselben Drogerie einkaufen.“ Damit schien für ihn alles geklärt zu sein. 

„Der Finkelmayr kauft Kondome?“ vergewisserte sich Branko kritisch. „In seinem Alter? Ich mein’, seine Frau hat die Menopause doch längst hinter sich...“

„Gleitmittel“, gab Seraphin ungeniert Auskunft. Die Geschichte war nur halb erfunden; als Nachbarn begegneten sich Branko und sein Patient gelegentlich in der Drogerie im Erdgeschoss ihres Wohnhauses. Dass man dabei hin und wieder einen Blick in den Korb der anderen Kunden warf, konnte einem ja nicht verübelt werden. „Er scheint sehr glücklich zu sein mit seiner Frau.“

Branko schüttelte den Kopf. „Du bist mir einer“, sagte er ruppig und doch fast liebevoll. „Und was ist mit dir? Glücklich verheirat’ bist nicht, sonst hätt’ deine Frau dich längst als vermisst gemeldet. Aber von einer Familie hast gesprochen beim Theo. Wo wohnt die denn? Ich würd’ die Leut’ gerne mal kennenlernen, die so einen Sonderling hervorbringen, weißt.“ 

„Du gibst nie auf, oder?“ erwiderte Seraphin lächelnd. „Na gut. Normalerweise dürfte ich das nicht verraten, aber du lässt mir ja keine Wahl. Meine Familie hat keinen festen Wohnsitz, wir sind überall. Sehen kannst du sie nicht. Dass du mich siehst, ist eine Ausnahme, weil mir für kurze Zeit erlaubt ist, dein Leben ein bisschen mitzubestimmen. Eigentlich habe ich bisher sehr selten eingriffen. Deshalb ist alles so neu für mich. Ich bin sozusagen frisch ‚materialisiert’, wie das in eurem Jargon heißt... und Mensch zu sein, ist gar nicht so leicht wie ich gedacht hab.“

„Das ist doch paranoider Quatsch!“ fuhr ihm Branko ins Wort und packte ihn am Mantelaufschlag, um ihn über den Korridor zur Inneren zu schleifen.

„Was hast du vor? 

„Dir zeigen, wie menschlich du bist! Ich hab’ die Faxen langsam dicke! Märchen erzählen kannst meinetwegen kleinen Kindern, aber mich für dumm verkaufen, das ist doch das Letzte!“

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