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Samstag, 16. März 2013

Leseprobe: Fairlight


 


Eine kleine Warnung vorab: bei dieser Geschichte geht es teilweise recht derb und drastisch zu. Fans von Liebesromanen nach klassischem Muster, Zartbesaitete und Feelgood-Literatur-Liebhaber werden vermutlich nicht unbedingt auf ihre Kosten kommen. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil mich die ambivalenten Verhältnisse der Upper Class in England zu Beginn des 20. Jahrhunderts fasziniert haben.

Das Quiz, bei dem es diesen Roman  (ohne Versandkosten innerhalb Deutschlands) zu gewinnen gibt, läuft noch bis morgen. Um 20.00 Uhr werde ich dann Glücksfee spielen und den Gewinner per E-Mail benachrichtigen.



Mittelengland, Herbst 1916

Drei Ärzte sind auf dem Weg zu einem Londoner Medizinerkongress. In einem unwirtlichen Stück Wald zwingt sie eine Reifenpanne zur Rast. Ein Reiter, gerade als versehrter Soldat aus Frankreich zurückkehrend, begegnet ihnen zufällig und bietet seine Hilfe an, indem er sie auf das geheimnisumwitterte Fairlight House einlädt, wo ein merkwürdiger Lord abgeschieden mit seinen vier Söhnen haust. Bald beginnen die Mediziner Interesse an der seltsamen Familie zu bekunden. Besonders Eugene, der jüngste der Söhne, der zudem in eine über geschwisterliche Bande hinausgehende Beziehung zu seinem Bruder Francis verwickelt zu sein scheint und hin und hergerissen ist zwischen verwehrter Flucht aus Fairlight und der Liebe zu Francis, weckt ihre Neugier mit seinem bizarren Verhalten, in dem Dr. Raeburn Schizophrenie vermutet. Eine ihm unerklärliche, jedoch nicht unbegründete Zuneigung zu dem Jungen veranlasst ihn dazu, tiefer in die verstörte Seele zu schauen und die Bewohner des Anwesens genauer zu beobachten… 

 
Das Jahrhundert war erst wenige Tage alt, als Dr. John Raeburn um sechs Uhr früh die Praxis – seine Praxis, dachte er mit Stolz, die er mit Dr. Thorndyke gemeinsam unterhielt – öffnete. Aus Zahlen machte sich Raeburn nicht viel, geschweige denn aus Aberglauben, doch er betrat das Sprechzimmer mit einer Art Hochgefühl. Dieses Jahr würde alles besser werden. Weihnachten hatte er alleine mit Victoria verbracht, geruhsam und friedvoll; zum ersten Mal seit Wochen ging es ihr verhältnismäßig gut. Neues Jahrhundert, neuer Beginn.
In den Zeiten der grassierenden Epidemien wie Cholera und Typhus schlängelten sich die Patienten schon bis auf die Straße hinaus, um Arzneien und ärztlichen Trost zu empfangen, der ihnen oft mehr bedeutete als das Versprechen auf baldige Genesung. Viele, um nicht zu sagen, alle dieser Leute behandelten er und sein ehemaliger Kommilitone Thorndyke umsonst; die Mehrheit ihrer wohlhabenden Klientel bestand auf Hausbesuche. Diese ließ sich jedoch in punkto Bezahlung nicht lumpen, und selbst wenn Thorndykes Onkel ihnen nicht monatlich einen finanziellen Zuschuss gewährte – was er tat – hätten Raeburn und Bartholomew Thorndyke um ihre moderne Einrichtung gekämpft. Sie waren jung und idealistisch, liebten ihre Arbeit und die Menschen, mit denen sie zu tun bekamen. Daher ließen sie ihren weniger bemittelten Patienten die gleiche Sorgfalt und Pflege zukommen wie der kränkelnden, schwerreichen Mrs. Hazelwood, die nach mindestens einem der beiden attraktiven Doktoren regelmäßig verlangte, in ihren 'Krisenzeiten' nicht selten mehrmals am Tag. Im Grunde fehlte ihr nichts; bis auf die natürlichen Alterserscheinungen war sie kerngesund.
An diesem kalten Januarmorgen hatten beide alle Hände voll zu tun, als Mrs. Ledbetter aufgeregt und kurzatmig schnaufend in die Praxis stürmte.
"Dr. Raeburn, Dr. Thorndyke!" dröhnte sie in ihrem gekünstelten Alt. "Kommen Sie schnell! Ich hab' was in mei'm Keller, das Sie interessieren wird!"
Es musste in der Tat etwas höchst Interessantes sein, wenn die gehbehinderte Ledbetter die weite Strecke von Whitechapel nach Marylebone in solch einer Hast auf sich nahm. Für den Pferdeomnibus hatte sie kein Geld, denn wie die meisten der Bewohner in diesem Bezirk bettelte sie um ein paar Krumen Brot, so dass eine Fahrt in einem Taxi purem Luxus gleichgekommen wäre.
Empfindlich in seiner Arbeit gestört, schaute Thorndyke stirnrunzelnd auf. "Ich fürchte kaum interessanter als meine Rippenfellentzündung, Mrs. Ledbetter."
"Dann hören Sie mich an, Dr. Raeburn." Mrs. Ledbetter, überzeugt, eine ganz besondere Nachricht überbringen zu müssen, ließ sich nicht abwimmeln. Der Angeredete sandte Thorndyke einen bändesprechenden Blick zu, wandte sich dann aber mit großer Geduld an die Alte.
"Was gibt es, Mrs. Ledbetter?"
"Kommen Sie nur, Doktor, und sehen Sie selbst."
Eilends zog sie ihn an der Hand hinaus auf die Straße, er musste sie erst daran erinnern, dass er sich und ihr sehr wohl eine Droschke leisten konnte. Das Ganze mutete lächerlich an; Bartholomew würde ihn später tüchtig ausschimpfen, dass er sich hatte breitschlagen lassen, die Elendsviertel zu betreten, wo an jeder Ecke die Ansteckungsgefahr lauerte. Auf der anderen Seite riskierte er diese jedoch auch tagtäglich in der Praxis.
Mrs. Ledbetter genoss es, wie eine betuchte Lady durch die Stadt zu kutschieren; als sie vor ihrer Baracke anhielten, weigerte sie sich zunächst, auszusteigen. Während der Fahrt hatte sie kein Wort über ihren sensationellen Fund im Keller verlauten lassen, obwohl sie ansonsten die Schwatzhaftigkeit in Person demonstrierte. Raeburn bezähmte seine Neugier. Möglicherweise machte sie auch nur aus einer Mücke einen Elefanten. Es war schon vorgekommen, dass sie mit einem Korb zermatschter Äpfel als Zahlungsmittel in die Praxis schlurfte und steif und fest behauptete, sie laboriere an einer Lungenentzündung, nachdem Thorndyke und er einhellig nichts dergleichen diagnostiziert hatten.
In dem bröckelnden Backsteinhaus pferchten sich fünf Familien auf engstem Raum zusammen, es roch penetrant nach Abfällen und Kloake. Raeburn wurde augenblicklich mit Fragen und Bitten bombardiert, etwas gegen den quälenden Husten zu verschreiben. Hoffentlich fing er sich nicht die Krätze ein. Energisch scheuchte Mrs. Ledbetter die Leute weg. Ihre Armut und Verzweiflung schnitt dem Arzt ins Herz, es gab nichts, was er für sie hätte tun können.
"Nun kommen Sie schon, Doktor. Das Balg wird nich' grade auf Sie warten. Hab' s einschließen müssen, weil' s wie blöd war vor Angst. 's muss durchs Oberlicht gekommen sein. Hat 'ne neue Scheibe nötig, aber Sie wissen ja, Mr. Ledbetter versäuft den ganzen Lohn, wenn er mal was in die Finger kriegt."
Damit drehte sie einen verrosteten Schlüssel in einem noch verrosteteren Schloss herum; die provisorisch eingebaute Holztür öffnete sich knarrend. Es war dunkel im Raum, und Raeburn brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an die dürftige Lichtquelle, die zum halb unterirdisch liegenden Fenster hereinfiel, gewöhnt hatten.
Nichts war zu sehen bis auf ein Regal, in dem Konserven und Kartoffeln gehortet waren, die einen staubigen Geruch ausströmten.
"Kind! Wo bist du? Ich hab 'n Stück Schokolade für dich“, lockte Mrs. Ledbetter. "Die alte Mrs. Ledbetter is' kein Monster nicht."
Unter dem Regal löste sich ein schwarzer Fleck und ein schmutziger, magerer Junge kroch hervor. Selbst in der kalten Jahreszeit trug er kurze Hosen und einen fadenscheinigen Wollpullover, der dem kleinen Körper nicht genügend Wärme spendete. Schuhe besaß er keine. Seine dreckigen Finger umklammerten ein Kästchen, das wie eine Schmuckschatulle aussah. Er mochte etwa vier Jahre alt sein, wirkte durch seine schlanke, um nicht zu sagen unterernährte Gestalt aber älter. Zweifellos nächtigte er auf der Straße, wurde wie so viele Kinder von seiner Familie vernachlässigt.
" 's ist ‘n kleiner Mann“, erklärte Mrs. Ledbetter. "Ich konnt' s zuerst nicht so genau sagen. Hustet grässlich, das arme Ding. Schlimmer als wir oben. Vielleicht können Sie ja was dagegen machen. Sonst wird' s sterben, fürcht' ich. Wär' nicht das erste, aber irgendwie sind Sie mir eingefallen, als ich' s gesehen hab. Wär' schade um so' n anmutiges Früchtchen."
Sein Mund wurde trocken. Noch nie hatte er einen so verängstigen Knaben gesehen. Instinktiv ging er in die Hocke, um auf gleicher Höhe mit ihm zu sein, erfasste die Details des kleines Gesichtes, die viel zu großen Augen, die hohlen Wangen. Langsam wich der Kleine zurück, als Raeburn sich bewegte, starrte ihn ausdruckslos an. Dass Mrs. Ledbetter ihn angelogen hatte, was die Süßigkeit betraf, akzeptierte er protestlos. Hier verschenkte niemand Lebensmittel, schon gar nicht Schokolade.
Sein Blick hing an dem riesigen Herrn vor ihm, taxierte ihn und schien dann durch ihn hindurchzugehen. Eine Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Trotz der unverkennbaren Furcht, dem Zittern und dem gelegentlichen nervösen Blinzeln strahlte er eine merkwürdige Unerschütterlichkeit aus, als warte er auf jemanden, von dem er sicher war, dass er bald kam und ihn aus dieser unangenehmen Lage befreite.
"Hallo“, flüsterte Raeburn. "Ich bin John. Sagst du mir deinen Namen?"
Der Junge zuckte zusammen, seine Miene verfinsterte sich.
"Hab keine Angst. Weißt du, wo deine Mummy ist? Sollen wir sie suchen gehen?"
Endlich eine Reaktion, wenn auch nur eine geringe, die sich in einem schüchternen Kopfschütteln äußerte.
"Warum nicht? Hast du was ausgefressen?"
Zur Seite flitzend, probierte der Knabe, sich an Raeburn vorbeizumogeln, aber dieser bekam ihn zu fassen und hielt ihn fest. Die Zartheit der Glieder in den viel zu großen Textilfetzen überraschte ihn. Straßenkinder verfügten oft über eine ihnen eigene robuste Natur, mit der dieser Junge nicht aufwarten konnte. Allzu lange lebte er vermutlich noch nicht als Obdachloser. Die Diskussion mit Victoria kam ihm in den Sinn. Wenn der Junge wirklich heimatlos sein sollte, könnten sie ihm ein neues Zuhause bieten. Aufgepäppelt, gebadet und gekämmt wäre der Kleine für seine Frau ein Gewinn. Er wusste, dass sie ihn lieben würde wie ihr eigenes Kind.
Nur mit halber Energie, als sei er zu müde, setzte sich der Knabe zur Wehr, indem er um sich trat. Die aus feinen Holzplatten gefertigte Kassette ließ er nicht los. Rasch versiegte seine Defensive, er legte den verstrubbelten blonden Kopf an Raeburns Schulter und verharrte. Mit der freien Hand strich Raeburn über die pochenden, unter der Haut bläulich schimmernden Schläfen. Er war heiß, hatte vermutlich Fieber.
"Meinen Sie, er kann nich' sprechen, Doktor?" erkundigte sich Mrs. Ledbetter, ihre Anwesenheit hatte Raeburn vollkommen vergessen. "Der arme Fratz!"
Raeburn versuchte es noch einmal. "Wo sind deine Mummy und dein Daddy? Hast du Verwandte, die für dich sorgen? Mrs. Ledbetter -" Er deutete auf die Alte, " - kennt sich hier gut aus. Wenn du uns sagst, wo du wohnst, bringen wir dich zu deinen Eltern."
"Der is' nich' von hier nich'„, insistierte Mrs. Ledbetter im Brustton der Überzeugung. "Kommt anscheinend aus den Docks, Bermondsey oder Lambeth. Hab' ihn noch nie gesehen. Den hätt' ich mir gemerkt."
Vorsichtig setzte er ihn ab, er stürzte zum Regal und presste sich an die Latte, sehnsüchtig zum zerbrochenen Fenster hinüberschauend.
"Wenn du nicht redest, kann ich dir nicht helfen“, meinte Raeburn, einen Hauch von Resignation in seine Stimme legend. "Dann müssen wir uns leider verabschieden."
Im Begriff, sich aufzurichten und zu gehen, spürte er ein banges Ziepen an seinem Rock. Er drehte sich um und schaute auf den Jungen herab.
"Wer sind denn Mummy und Daddy? Ich hab so was nicht, " piepste der Kleine in ausgeprägtem Cockney, etwas fremdländisches gesellte sich zu seinem Dialekt, das den Schluss nahelegte, er beherrsche noch eine andere Sprache. Es klang so abenteuerlich, dass Mrs. Ledbetter und Raeburn zunächst damit beschäftigt waren, die Frage zu verdolmetschen. Schließlich schlug Mrs. Ledbetter fassungslos die Hände über dem Kopf zusammen. "Keine Eltern! Ja, wer kümmert sich denn um dich, kleiner Mann?"
Er reagierte nicht, blickte Raeburn an, der seiner Ansicht nach das Sagen hatte, weil er autoritärer und strenger wirkte. Vielleicht gefiel es ihm nicht, wenn er der schäbig gekleideten Frau antwortete. Raeburn verstand. "Wer passt auf dich auf, mein Sohn?"
Aufpassen, was war das? Er hatte das Wort noch nie gehört.
"Du?" Seine kleine rußige Hand schob sich zögerlich in Raeburns. Ein Gefühl des Glücks wallte in Raeburn auf. Es war so einfach! Fast zu einfach.
"Wolltest du das denn?"
Der Junge nickte freudestrahlend.
"Grundgütiger, Dr. Raeburn! Da haben Sie sich auf was eingelassen! Sie können den doch nich' durchfüttern, so wenig Zeit wie Sie hab'n! Aber vergessen Sie nich', dass ich es war, die Ihnen zu Ihrem Familienzuwachs verholfen hat."
Schmunzelnd beförderte Raeburn ein paar Schillinge zutage und steckte sie der Alten frivol in den Ausschnitt.
"Keinen Schnaps, Mrs. Ledbetter."
Sie kicherte und trippelte gespielt kokett die Treppe hinauf.
Wieder machte sich Raeburn kleiner, die zierlichen Schultern des Jungen umfassend, welcher die scharfen Gesichtskonturen vor ihm nachzeichnete, den Finger unbefangen in Raeburns Wange bohrte.
"Willst du mit mir kommen? Wir gehen etwas essen, und dann zeige ich dir, wo dein Zuhause sein wird und deine neue Mummy. Eine Mummy hat dich gern und will, dass es dir immer gut geht. Da du deinen Namen nicht weißt, geben wir dir eben einen neuen, was meinst du?"
Der Junge antwortete geistesabwesend, während er Raeburns glattrasiertes Kinn und den Kiefer liebkoste. "Das ist ein feines Spiel, John."
Eindringlich hielt der Arzt die Hände des Buben fest. "Kein Spiel. Du musst nicht mehr auf die Straße, bekommst ein eigenes Bett, dein eigenes Zimmer. Verstehst du?"
Ernst, beinahe feierlich nickte der Kleine, doch es war ihm anzumerken, dass Begriffe wie Bett und Zimmer zu abstrakt waren und er mit seiner Antwort nur den schwarzgekleideten Herrn zufriedenzustellen bestrebt war. "Ja. Fahren wir mit der Kutsche?"
"Sicher tun wir das."
Raeburn nahm ihn auf den Arm, sofort umhalste ihn das Kind besitzergreifend. "Mein Bauch tut weh. Da muss schnell was rein."
Die exotische Aussprache war nicht leicht auseinanderzuklamüsern, aber noch biegsam genug, dass man ihm ordentliches Englisch beibringen konnte. Außerdem gab ihm sein eigenwilliger Slang eine charakteristische Note. Abschwächen musste man ihn trotzdem, sonst würde er sich zum Gespött der unbarmherzigen Gesellschaft machen. Schade eigentlich, dachte Raeburn, dem der Dialekt langsam zu gefallen begann.
Gemeinsam mit Mrs. Ledbetter trieben sie einen nahegelegenen Imbiss-Stand auf, wo Raeburn ihr eine Mahlzeit spendierte. Der Kleine ließ nicht von ihm ab, während er schmatzend eine fetttriefende Pastete verspeiste und Raeburns Revers damit bekleckerte. Als ihn Raeburn auf die Pflastersteine stellte, wurde sein Blick bettelnd, Raeburn hob ihn berührt wieder hoch.
"Ist noch so klein“, lächelte Mrs. Ledbetter und präsentierte ihr lückenhaftes Gebiss. "Auf den kurzen Beinchen, da sieht die Welt ziemlich bedrohlich aus, was? – Na, ich mach' mich dünne, Doktor. Danke für die Einladung. Und viel Vergnügen mit dem Bengel."
Gedankenverloren sah der Kleine ihr nach. Raeburn unterhielt sich mit dem Verkäufer, der ihn kannte, da er vor längerem die an Tuberkulose erkrankte Ehefrau behandelt hatte, der es inzwischen wieder besser ging. Zufällig hatte Mr. Williams einen guten Freund, der in bürokratischen Angelegenheiten bewandert war, so dass er Raeburn bald in ein Gespräch über Adoption und Sorgerecht verwickelte. Immerhin war es möglich, dass doch noch Verwandte existierten, die er in Kenntnis setzen musste. Er wollte, dass alles mit rechten Dingen zuging, wenn er einen solch einschneidenden Schritt unternahm. Irgendwie konnte er sich nicht recht vorstellen, dass keiner den Jungen vermisste.
"Lassen Sie meinen Bruder runter!" Ein Junge, noch verwahrloster als der auf seinem Arm, knuffte ihn in die Seite, Raeburn hatte ihn nicht kommen hören. Auch er war unterernährt, barfuss, sein fast schwarzes Haar, das ihm lang in die Stirn hing, verfilzt. Um sich warm zu halten, tappte er von einem Fuß auf den anderen und umschlang seinen abgezehrten Oberkörper, den ein durchlöcherter grauer Wollpullover umhüllte und einen ungewöhnlich dunklen, sehnigen Arm freiließ. Die Hose war zerrissen und geflickt, reichte ihm nur bis zu den knochigen Knien. Seine eingesunkenen Augen glänzten fiebernd.
"Wird' s bald?"
"Sie tun besser, was er sagt“, mischte sich der Pastetenverkäufer ein, tatsächlich bekundete sein Ton ein gewisses Grausen vor dem ungebetenen Gast. "Schlägt zu wie 'n Boxer, da kennt der nix."
Feindselig starrte der Halbwüchsige den Doktor an, rieb prüfend den wollenen Zwirn des Wintermantels zwischen Daumen und Zeigefinger. "Sie sind ‘n Gentleman, hm? Nicht von hier." Derselbe harte Akzent mit einem sarkastischen, seinem Alter ungemäßen Unterton.
"Nein“, bestätigte Raeburn, den Kleinen absetzend. Der Verkäufer, der sich wohlweislich ins Innere seines Lädchens zurückgezogen hatte, sprach keine leeren Worte, davon konnte sich Raeburn nun selbst überzeugen. In gleichem Umfang, wie er den Bruder verängstigt angetroffen hatte, zeigte sich der Ältere unversöhnlich und störrisch.
"Warum haben Sie ihm was zu essen gekauft?" fragte der Junge barsch, während er sich geschickt den kleineren schnappte, der Raeburn in seiner Geschmeidigkeit an eine Meerkatze erinnerte, wie er an dem zarten Hals des Älteren hing. Die Liebe in dieser Geste kontrastierte stark zu dessen gewaltvermittelnder Aura. Raeburn kaute an dem letzten Bissen, der in seinem Mund eine zähflüssige, gummiartige Konsistenz annahm und sich nicht hinunterwürgen ließ.
"Möchtest du auch etwas? Du siehst hungrig aus."
"Ich will nur meinen Bruder haben“, fauchte er. "Er gehört mir!"
"Wir sollten vernünftig darüber reden, meinst du nicht?"
"Da gibt' s nichts zu bereden. Sie haben ja schon alles geplant, oder?"
Raeburn trat näher an ihn heran, der Junge sog scharf die Luft ein. Behutsam berührte der Doktor das erhitzte Gesicht; die Auflehnung, die ihm das wilde Kerlchen entgegenbrachte, schmolz für die Dauer eines Wimpernschlages, während die Pupillen in den wachsamen Augen sich weiteten.
"Papa“, murmelte er, die Wange an die kühle, flache Hand schmiegend. Die Gedanken eilten drei Jahre zurück, für ihn eine Ewigkeit.

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