Es ist merkwürdig. Seit Mama nicht mehr da ist, verliert die Welt. Sie verliert nicht nur an Freude und Licht, sondern auch an Menschen, die einen langen Weg in meiner Lebenslinie gegangen sind. Überraschend starb am 19. mein Onkel, der noch im Januar in einem Restaurant mit Geburtstagstafel seinen 90. gefeiert hat - und das relativ rüstig.
Ich war sehr traurig, als meine Tante am nächsten Morgen anrief, um es uns mitzuteilen. Sie waren 65 Jahre lang verheiratet, eine lange Zeit. Und dann wurde knapp eine Woche später eine Karte bei uns eingeworfen, die mich genauso traurig machte. Sie unterrichtete uns vom Heimgang von Mamas bester und längster Freundin. Das war fast noch surrealer. Und ich habe gemerkt, es tut nicht nur bei den nächsten Verwandten weh.
Annchen war Mama sehr ähnlich in ihrer Art, unkonventionelle Wege zu gehen, und auch in ihrer Herzlichkeit - obwohl sie ursprünglich aus Norddeutschland kommt. Sie und ihr Mann Peter sind mit Mama und Papa jahrelang gewandert, waren auf diversen Friedensbewegungen und haben sich einfach gut verstanden. Ich erinnere mich an eine gemeinsame Wanderung mit ihrem Sohn Martin, in den ich ein bisschen verliebt war und der leider früh verstorben ist. Oder an ein Open Air-Konzert in Ulm, das meine Schwester und ich mit ihrem jüngsten Sohn Achim und dessen Kumpel besuchten.
Vermutlich wissen es nur noch wenige, doch aufgrund ihrer Initiative wurde das "Bücherland", der hiesige Buchladen, Anfang der 1980er Jahre ins Leben gerufen. Literatur war ein Steckenpferd von ihr. Sie recherchiert zu dem Findling Kaspar Hauser, der "ihr fünftes Kind" wird. In einem Briefroman beschreibt sie ihre Nachforschungen zu Kaspar, und wird auf viele Vorträge zu dem Thema eingeladen.
Im Sommer waren wir manchmal eingeladen auf ihrem idyllischen Grundstück im Grünen, das sich einige Kilometer entfernt von der Stadt befindet, in der sie wohnten, und in dem sie sich ein bisschen wie im Paradies fühlen konnten, da es weit abseits von weiteren menschlichen Behausungen lag. Da gab es auch Kaulquappen, deren Entwicklung zu winzigen Fröschen wir beobachtet haben, wo wir Erbsen auspuhlten, und wo wir durch die Gegend gestreift sind. All das hat einen nostalgischen Rotgelb-Filter, wenn ich es nun Revue passieren lasse.
Letztes Jahr kurz vor Weihnachten rief mich Annchen an, um mir mitzuteilen, wie sehr ihr mein Buch "Shalom Mamele" gefallen hat, das ich ihr im Frühjahr überreicht habe, und wie gut und lebendig ich Mama beschrieben habe. "Genauso war sie!" sagte sie mir, und ich habe mich so sehr gefreut. Manche andere Freundinnen waren nämlich überrascht von meinem Buch und meinten, sie hätten Mama nicht ganz so erlebt. Das zeigt vielleicht, wie eng die beiden befreundet waren, und vor allem, wie lang. Annchen und Mama hatten viele gemeinsame Interessen, z.B. die Naturapotheke Gottes. Das Buch nach Maria Treben lag stets griffbereit auf ihrem Wohnzimmertisch, und auch bei Mama stand es im Regal. Auch politisch fanden sie einen Konsens. Mama hat Annchen oft besucht, um in ihrem Garten Feldblumen zu pflücken und sich mit ihr auszutauschen. Bis zuletzt machte sie den kleinen Spaziergang durch die Schrebergartenanlage zu Annchens und Peters Bungalow am Rand der Stadt.
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Annchens Garten |
Wir waren auf der Trauerfeier, die im kleinen Familien- und Bekanntenkreis stattfand, und ich musste weinen. Ein weiterer Teil meiner Kindheit geht mit Annchen. Mein Kontakt zu ihr war nicht intensiv, aber durch Mama war sie immer präsent. Ähnlich lebenslustig, fürsorglich und liebevoll. Sie hat immer dafür gesorgt, dass ihr Peter am Nachmittag ein Bierchen trinken und dabei aus dem Fenster auf die Straße sehen konnte. Sie wird mir fehlen.
Ich glaube, Mama hat schon am Himmelstor auf sie gewartet. Vielleicht gehen sie jetzt gemeinsam durch blühende Wiesen mit Kräutern, die sie sammeln und begeistert einander zeigen. Und ich wünsche ihrer Familie und vor allem Peter, dass sie Trost und Kraft im Gedanken finden, sich an einem schöneren Ort wiederzusehen.