Man erfährt und lernt ja so einiges, wenn man im Internet surft. Oft stolpert man dabei über Dinge oder Begriffe, die man noch nie gehört hat, die aber irgendwie neugierig machen. In Facebook z. B. lief mir gestern ein passiver Protagonist über den Weg.
Was um Himmels Willen ist das denn?! Ich kenne mich im Schreiben doch einigermaßen mit Protagonisten und Antagonisten aus, aber das? Noch nie gehört. Und dann die Feststellung dazu, dass der passive Protagonist in neunzig Prozent aller Romane einen festen (und verpönten) Platz besetzt. Ich musste unbedingt wissen, was es mit ihm auf sich hat. Ist er wirklich so schlimm, wie der Artikel impliziert?
Ehrlich gesagt, ich denke
nicht. Obwohl ich in meinen eigenen Romanen mehr Frodos habe als Hamlets
(für mich das klassische Beispiel eines passiven Protagonisten), hat
Hamlet durchaus eine Daseins-Berechtigung. Nicht nur, weil man mit ihm
fühlen kann, sondern auch, weil er - anders als der aktive Protagonist -
kein makelloser Held ist und sich in den meisten Fällen von den Ereignissen um sich herum überrumpelt
fühlt. Wie man sich selbst oft im richtigen Leben. Klar, jeder taucht
gern in fremde Welten ab und fiebert mit dem Helden, erlebt atemberaubende Abenteuer an seiner sicheren Seite, die er in unerschrockener Kühnheit
beeinflusst und meistert. Und noch lieber wäre jeder selbst gern ein
bisschen mehr aktiver Protagonist. Aber hat der passive Protagonist
nicht auch seine Vorzüge?
Mir fällt da mein eigener Roman "Vom Ernst des Lebens"
ein. Auf den ersten Blick wäre der selbstbewusste Miles der aktive
Protagonist, während der eher zögerliche und scheue Rupert den passiven
Part (uiuiui - nicht missverstehen!) übernimmt. Allerdings stellt sich
im Lauf der Geschichte heraus, dass Rupert durchaus den Lauf der
Handlung beeinflusst; vielleicht genauso sehr wie sein gegensätzlicher
Freund. Anfangs wirkt er neben Miles ängstlich und apathisch, aber er
versteht es bereits im zweiten Kapitel, Unternehmungslust zu zeigen, mit
der er dem Roman eine Wende verleiht, die es ohne sein beherztes Handeln
nicht gegeben hätte. Überhaupt: ganz ohne das Eingreifen des
Protagonisten - sei er aktiv oder passiv - erzählt sich keine
Geschichte, oder? Mir zumindest fiele ad hoc kein Beispiel ein, in der
eine Hauptfigur völlig lethargisch am Geschehen vorbeischwimmt. Selbst
Hamlet greift zum Schwert (Giftpott? Sehr beliebt und das Mittel der Wahl in der Renaissance),
wenn ich es richtig in Erinnerung habe.
Eine mir
bekannte Figur gibt es jedoch, die tatsächlich wenig bis gar nichts zum
Geschehen beiträgt. Edmund Talbot aus William Goldings "Rites of
Passage" / "To the Ends of the Earth" (deutscher Titel "Äquatortaufe").
Er kommt als Aristokrat an Bord eines Schiffes, das nach Australien
unterwegs ist, und wird Zeuge der "Animalisierung" auf engstem Raum während der strapaziösen Reise von Großbritannien nach Down Under.
Dabei bleibt er stets Beobachter und folglich größtenteils distanziert.
Seine einzigen Tätigkeiten beschränken sich auf seine Tagebucheintragungen,
fast peinliche, der Handlung meist undienliche Ausrutscher oder verdutzte
Blicke (sehr schön veranschaulicht von einem noch extrem jungen Benedict
Cumberbatch in der Miniserie "To the Ends of the Earth" von der BBC aus dem Jahr 2005).
Und dennoch ist William Golding mit
diesem Roman von 1989 ein moderner Klassiker gelungen. Ich glaube, gerade weil Mr.
Talbot so unbeholfen und passiv wirkt und scheinbar kein Fettnäpfchen
auslässt, gewinnt er Sympathien unter Lesern und Zuschauern. Viele können
sich mit ihm besser identifizieren als mit dem forschen Helden, der
die Geschichte zu seinen Gunsten in die Hände nimmt und stets auf den
eigenen Vorteil bedacht ist oder die Geschicke einer Welt / eines Volkes
lenken muss wie Frodo.
Vielleicht habe ich den Artikel aber auch
völlig falsch verstanden. Dann bitte ich um Entschuldigung. Ich bin
jedenfalls beim Durchlesen insgeheim ein bisschen froh gewesen, dass in all meinen
Romanen kein Protagonist so passiv ist, dass man behaupten könnte, er
sei überflüssig für die Story.
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