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Montag, 20. März 2023

Ich lese gerade... "Lancelot" von Giles Kristian (leichte Spoiler!).

 Mein erster Wälzer seit vielen Jahren mit über 800 Seiten ist "Lancelot" von Giles Kristian. Darin geht es - unschwer zu erraten - um die Artussage und wie Lancelot zum Tafelritter und Liebhaber der Königsgattin Guinevere wurde, die er bereits in Kindertagen auf der Insel der Herrin vom See kennenlernt, indem er sie aus einem schweren Schiffsunglück errettet, bei dem alle anderen Passagiere ertrinken. 

 


Im vorigen Beitrag habe ich mich bereits ansatzweise darüber ausgelassen, wie seltsam es anmutet, dass Artus-Romane aus männlicher Autorensicht ungleich gewalttätiger wirken als aus weiblicher, und mich dennoch die Vorgänge nicht besonders tangieren, wenn ich für keine der Figuren Sympathie hege. Daher hatte ich nicht vermutet, dass mich gestern eine Stelle zum Heulen gebracht hat, die andere höchstens mit einem Gefühl des leisen Bedauerns gelesen hätten. Die Rede ist von Lancelots Sperberin, die er trainieren soll ("Abtragen" nennt man das in der Sprache der Falkner). Der Falknermeister erteilt ihm diesen unliebsamen Auftrag, kurz bevor König Clauda und sein Gefolge über König Ban herfallen, also gleich zu Beginn der Geschichte. 

Lancelot und der Vogel werden keine Freunde. Im Gegenteil. Es scheint so, als würde die aggressive Sperberin ihren neuen Herrn demonstrativ verachten, während Lancelot sich zwar Mühe mit ihr gibt, sich aber ihrer insgeheim schämt, weil ihm nicht der viel wertvollere und imposantere Gefalke anvertraut worden ist. Er wird zum Spott der Jungs auf der Insel Karrek, und auch die erwachsenen Männer ziehen ihn wegen seines ungehorsamen Sperberweibchens auf, das zwar keinen Namen hat, aber im Lauf der Zeit doch so etwas wie eine Gefährtin für Lancelot wird, wenn auch unfreiwillig. Lancelot hängt an ihr, haben sie gemeinsam doch eine Menge durchgestanden.


papaya45 / Pixabay
 

Sie überlebt wie er die Flucht von Benoic nach Aremorica und von dort nach der Insel über den Kanal in einem Weidenkörbchen, das Lancelot ständig mit sich trägt. Und als unerwarteter Sieger des alljährlichen Seerennens erhält er von der Herrin Nimue einen exquisiten Falknerhandschuh aus Hirschleder. 

Ich mochte das ungleiche Gespann Vogel und Mensch, und besonders gefiel mir, dass die Sperberin nicht klein bei gab. Immer war sie wild, unberechenbar und auch starrköpfig. Es gibt auch Momente, in denen es scheint, dass Lancelot ihr Vertrauen gewinnt, doch sie bleibt stets auf der Hut und reagiert selten so, wie er es von ihr erwartet.

 Eines Tages verheddert sie sich aufgrund ihres aggressiven Verhaltens in der Lederfessel und wird von Lancelot zu spät entdeckt: ihr Flügel ist gebrochen. Ich war zwar ein bisschen in Sorge, aber da Lancelot optimistisch daran ging, ihre Verletzung zu behandeln, dachte ich nichts Böses, als alle anderen Charaktere ihn mahnten, es zu einem Ende zu bringen und dem Vogel den Hals umzudrehen. Er tut es nicht, doch die gefiederte Diva verliert ihren Lebenswillen und wird immer schwächer, bis sie nach einer kurzen trügerischen Besserung doch zu den Göttern fährt bzw. fliegt. 

Als ich lesen muste, wie Lancelot und Guinevere die tote Sperberin in den Weidenkorb betten und ihn aufs offene Meer hinaustreiben lassen und Lancelot im Stillen denkt, dass sie vielleicht in die alte Heimat zurückkehrt, war es um meine bis dato mühsam aufrechterhaltene Fassung geschehen. Ich habe geheult wie schon lange nicht mehr aufgrund einer fiktiven Geschichte, so berührt hat mich das Schicksal des kleinen Vogels. Dabei wusste ich nicht einmal, wie Sperber aussehen.  


139904 / Pixabay


Am nächsten Morgen hatte ich geschwollene Augen und keine Sonnenbrille und Regenwetter. Das war ein bisschen ungünstig für mein Alibi. Ich hoffe mal, dass Lancelot bei seiner nächsten Beziehung zu einem Tier mehr Glück hat als mit dem Sperberweibchen. Oder dass es nur scheintot ist und aus tiefem Schlaf erweckt werden kann. Das kommt in Legenden und Sagen schließlich öfter vor. Hoffentlich steht das unglückliche Sperberweibchen jedenfalls nicht für Lancelots Versagen auf ganzer Linie. Denn eigentlich ist er ja selbst eine Art Pechvogel.




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