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Freitag, 24. Februar 2023

Rezension "Es geschah im Nachbarhaus" ~ Willi Fährmann

 Dieses Jugendbuch entdeckte ich in einer Bücherkiste am Straßenrand. Nach einem kurzen Blick auf den Klappentext nahm ich es mit und fing bald an, mich damit zu beschäftigen. Die Thematik ist schwer verdaulich, und obwohl es im ausgehenden 19. Jahrhundert spielt, traurigerweise immer noch aktuell. Denn Vorurteile gegenüber "Anderen" sind trotz des "toleranten" Rucks in der Gesellschaft genauso präsent wie jeher.



Inhalt: Der Autor schildert einen "Kindsritualmord" in einer Stadt, der auf einer wahren Begebenheit aus Xanten beruht. Nach ein wenig Recherche fand ich heraus, dass der wirkliche Mann, den man 1891 so übel verleumdet hat, Adolf Buschhoff hieß und sogar mit einer Mordanklage bedroht wurde. Das Perfide daran: Er beteuerte, dass er nichts mit dem Tod des fünfjährigen Johann Hegmann zu tun hatte, und dennoch wollte man ihn schuldig sehen, weil er Jude war. Die Schikanen und Verleumdungen, denen er ausgesetzt war, hatten letztendlich sein Leben und das seiner Familie zerstört. 

Zur Geschichte: Der dreizehnjährige Sigi ist der Sohn des Viehhändlers Bernhard Waldhoff, der Geschäfte mit Juden und Nichtjuden in der ländlichen Stadt tätigt. Die Familie gilt als ehrlich, rechtschaffen und hat viele Freunde. Ihren Glauben halten sie zwar nicht geheim, doch keiner stört sich daran, auch wenn häufig die Frage gestellt wird "Warum seid ihr denn so anders?" 

Sigis Schwester Ruth ist mit Gerd liiert, einem Nichtjuden, der sie heiraten möchte. Doch als ein toter Junge in der Scheune eines Nachbarn gefunden wird, behauptet man, sie hätte einen schweren Sack über die Straße aus dem Hoftor der Waldhoffs gezerrt. Auch Sigi bekommt den Unmut der Bewohner zu spüren: Fremde Jungs verprügeln ihn, weil er ihnen nicht verrät, wo sein Vater wohnt. Zum Glück hält sein Freund Karl Ulpius zu ihm, der ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden hat. Aber auch er kann nicht verhindern, dass sich über den Waldhoffs erst fast unmerklich, dann unverhohlen Unheil zusammenbraut: beim eigentlich geselligen Schützenfest schlägt die Stimmung um und es kommt zu einem Eklat. Später wird ihr Haus mit Steinen beworfen und demoliert. Frau Waldhoff wird verletzt, Sigi vom Schulunterricht ausgeschlossen.

Als der Vater in Untersuchungshaft kommt, bessert sich die Lage etwas, doch Ruth muss eine bittere Enttäuschung hinnehmen.


MrsBrown / Pixabay


Bei all dem Schlimmen, das der Familie Waldhoff widerfährt, lernt Sigi jedoch auch den Wert von wahrer Freundschaft kennen: Karl und dessen Vater halten zu den Waldhoffs und verraten sie auch nicht, als sie aus der Stadt fliehen, in der sie als deutsche Bürger unbescholten lebten, verwurzelt waren und ein Geschäft aufgebaut hatten. 

Aufgrund der Ereignisse ändert Karl seinen Berufswunsch und wird Lehrer, der es sich zur Aufgabe macht, die tragische Geschichte der Waldhoffs als Mahnung an Schulen zu schildern. Der Epilog hat mich besonders betroffen gemacht. 

"Als in der Kristallnacht 1938 die Synagogen brennen, ist Karl siebenundfünfzig Jahre alt. In siebenunddreißig Lehrerjahren hatte er über sechshundert jungen Menschen das Schicksal der Waldhoff-Familie erzählt. Trotzdem ereignete sich die Nacht des Schreckens und der Schuld, und Schlimmeres geschah. Zu wenige Menschen waren wie Karl Ulpius."

Meinung: So schockierend das Buch ist, zeigt es vor allem eins: aus der Geschichte wird nicht gelernt. Dennoch gibt es Hoffnungsschimmer und Menschen wie Karl, der sich von der Hetze gegen die Waldhoffs nicht beirren lässt. Sigi bleibt sein Freund, und gerade die Randgeschichten, in denen diese Freundschaft zum Tragen kommt, haben mir gut gefallen. Der Stil ist eher nüchtern und knapp - ein typisches Element früherer Jugendbücher (es erschien erstmals im Jahr 1968) -, doch wenn Hannah Waldhoff ihrem Herd und den Küchenutensilen Auf Wiedersehen sagt und Karl die flüchtende Familie nachts ein Stück begleitet, um beim Abschied von Sigi das begehrte Hirschhornmesser geschenkt zu bekommen mit der Bitte, ihn doch noch irgendwann auf den Glockenturm mit hinaufzunehmen, dann sind diese Momente umso anrührender. 

Obwohl als Schullektüre empfohlen, kannte ich "Es geschah im Nachbarhaus" bisher nicht. Ich hoffe aber, dass ein so wichtiges Buch nie in Vergessenheit gerät.

 

Bewertung: 💫💫💫💫💫


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