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Donnerstag, 3. Juni 2021

Rezension "Wir waren Glückskinder - trotz allem" von Michael Wolffsohn

 Dieses Buch, das ich im Rahmen einer Facebook-Verlosung gewonnen habe, ist als Kinder- und Jugendbuch konzipiert (es gibt auch eine "Erwachsenenausgabe", die ich weiter unten verlinke), und ich kann sagen, dass ich es nach dem Lesen unbedingt als Schullektüre empfehle. Obwohl schon aus familiärer Hinsicht interessiert am Judentum, dessen Geschichte und dem Nahost-Konflikt, war selbst mir einiges neu bzw. ist mir neu aufgegangen. Fragen, die sich "Nachkriegsdeutsche" eigentlich nie stellen, werden von Herrn Wolffsohn am Beispiel seiner Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits und seinen Eltern Thea und Max aufgeworfen. Allein das war ein Aha-Moment für mich.



Inhalt: In einfachen und kindgerechten Worten beschreibt das Buch die Schicksale der Familien Saalheimer und Wolffsohn, die in Bamberg und Berlin ansässig waren und ein gutes Leben führten. Zwar gab es Unterschiede zu den Katholiken und Protestanten, doch man sah das nicht als Problem an. Im Gegenteil: Thea Saalheimer geht sogar auf eine katholische Schule in Bamberg, in der Protestanten weit weniger gern gesehen sind als Juden. Zu spüren bekommt sie ihr "Anders-Sein" erst wirklich, als in der Reichpogromnacht die Synagogen brennen. Ihr Vater Justus (der mir sehr sympathisch war in seiner Klugheit und emotionaler Intelligenz) nimmt die Zeichen lange nicht ernst, sind die Saalheimers doch Deutsche und stolz darauf, im Land der Dichter und Denker dazuzugehören. Doch als Justus für kurze Zeit in ein Konzentrationslager kommt und nur durch einen wohlwollenden Angestellten wieder freigelassen wird, ändert sich alles. Thea muss das Internat in Berlin verlassen, auf das sie sich als Siebzehnjährige so sehr gefreut hat, und gemeinsam flüchtet die Familie vor dem Hitlerwahn nach Palästina.

Den Wolffsohns ergeht es ähnlich: Opa Karl, ein erfolgreicher Unternehmer in der Unterhaltungsbranche und leidenschaftlicher Kinobetreiber (u.a. der "Lichtburg" in Essen), muss alles zurücklassen und wird seine Projekte nie mehr weiterentwickeln können. Seine Frau Recha leidet sehr darunter, nicht mehr auf Parties gehen zu dürfen und den Wohlstand aufzugeben, in dem die Wolffsohns als angesehene und gutbetuchte Bürger gelebt hatten. Ihre Flucht über Holland und Belgien nach Palästina war für mich fast unerträglich zu lesen, wobei ich froh bin, dass Herr Wolffsohn im Allgemeinen auf allzu detaillierte Schilderungen verzichtet hat.

Die Einreise nach dem damaligen Britisch-Palästina geht durchaus nicht reibungslos vonstatten, und auch dort ist das Leben kein Honigschlecken. Nicht nur werden harte Arbeit und eine neue Sprache verlangt, auch Gefahr droht - von den arabischen Nachbarn, die ein Abkommen mit den Briten hatten, und christlichen Sekten. Auch unter Schicksalsgenossen und zuvor eingewanderten Juden bahnen sich hin und wieder Unstimmigkeiten an - irgendwann beschließt Großmutter Recha, nicht mehr auf den Markt in Tel Aviv zu gehen (ihre Gründe mögen simpel gewesen sein; ich konnte sie gut verstehen). Aber auch etwas Gutes hat die "Luftveränderung". Im "Beit Israel" - einer Art Treffpunkt für deutsche Juden - lernen sich Thea Saalheimer und Max Wolffsohn kennen und lieben. Sie und die Großeltern Wolffssohn kehren einige Jahre nach dem Krieg mit dem kleinen Michael nach Berlin zurück.

Gegen Ende wird die aktuelle Situation von Juden in Deutschland beleuchtet, was ich sehr gut fand, zeigt sie doch gewisse Tendenzen zu 1933. Damit das nie wieder geschieht, dafür plädiert Michael Wolffsohn eindrücklich und wendet sich dabei direkt an den jungen Leser. Denn jeder kann dazu beitragen, auch und vielleicht gerade die nächste Generation.

                                                        

Kurioses und Frivoles auf dem Markt von Tel Aviv / Foto: Christine Wirth

 

Meinung: Ein Buch, das trotz der kindgerechten Aufbearbeitung unter die Haut geht. Ich kannte selbst eine Familie, die während des Krieges ausgewandert und wieder zurückgekehrt ist, doch den unvorstellbaren Schrecken der Hitlerära und das Gefühl der Entwurzelung im fremden Land, darüber haben sie nie gesprochen. Zeitzeugen gibt es heute nur noch wenige. Umso plastischer beschreibt der Autor mit seiner eigenen Familie die Entbehrungen und sogar Schuldgefühle, aber tatsächlich auch das Glück, das ihr inmitten all des Chaos und der Unruhe widerfuhr. Durch die Saalheimers und die Wolffsohns werden die sechs Millionen auf einmal persönlich; man fühlt mit ihnen, staunt und fürchtet sich. Dabei vergisst Michael Wolffsohn nie das Positive. Mit der richtigen Prise Humor erzählt er von den köstlichen Jaffa-Orangen, familieneigener Chuzpe, Sprachenwirrwarr und heißen Sommertagen, die den buchstäblich zugeknöpften osteuropäischen und deutschen Einwanderern den Spitznamen "Jeckes" einbrachten. 

Was mir nicht gar so gut gefiel, war die zwar im Kontext verständliche, aber mitunter etwas schulmeisterliche Art, zu biblischen Geschichten Bezug zu nehmen und den Gottesglauben teilweise ins Reich der Märchen zu verbannen. Aber das sei dem Autor als Historiker und "Besserwisser", als der er sich selbstironisch bezeichnet, verziehen und hat keinen Einfluss auf meine Gesamtbewertung.

Ich werde das Buch weiterverleihen und würde mir wie gesagt sehr wünschen, dass "Wir waren Glückskinder - trotz allem" Einzug in sämtliche Klassenzimmer erhält. Für mich ein zwar etwas schwer lesendes, da emotional aufwühlendes, aber unbedingt lesenswertes Zeitzeugnis von Herr Wolffsohn, dessen Enkel ihn erst auf die Idee brachte, die bewegende, aber dennoch hoffnungsvolle Biografie seiner Familie niederzuschreiben. Danke, Noah! 


 

Bewertung:  💫💫💫💫 💫











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