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Dienstag, 11. Februar 2020

"Ein Spiel zu viel" ~ Leseprobe ~ (II)

Es ist mal wieder Zeit für eine Leseprobe. Diesmal aus" Ein Spiel zu viel", meinem Roman über eine Clique junger Schauspieler zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England.

Vor der Veröffentlichung hatte ich lange überlegt, in welchem Genre die Erzählung am besten aufgehoben wäre  - und bin mir bis heute nicht ganz schlüssig. Historisch verbürgte Elemente werden weniger beleuchtet, dafür die Beziehung der fünf jungen Männer untereinander und ihre jeweiligen Charaktere. Ein zentraler Punkt in der Geschichte ist die Verbindung des impulsiven Galen zu dem charismatischen "Anführer" der Truppe, Irving Van Sander, und wie sie sich wandelt, als Galen etwas über ihn herausfindet, das lange Zeit ein Geheimnis bleibt und die bis dahin mehr oder weniger harmonische Gruppendynamik verändert.





Insofern bezeichne ich den Roman gern als historischen Psycho-Thriller, auch wenn es keinen Serienmörder im engen Sinn oder allzu blutige Szenen gibt. Vielmehr handelt der Roman von Verlustängsten und wohin sie jemanden treiben können, der sich seiner selbst nicht sicher ist und Bestätigung in der seelischen und physischen Abhängigkeit Anderer sucht. Oder wozu man fähig ist, wenn man jemanden nicht loslassen kann.

In der ausgewählten Leseprobe kehrt Galen zum zweiten Mal zu seinem früheren Adoptivvater Raphael Blake zurück, nachdem er einige persönliche Sachen geholt hat, um für einen längeren Zeitraum bei ihm zu wohnen und eine Schuld abzuarbeiten. Beide wissen nicht eindeutig um die Identität ihres Gegenübers, da sie durch unglückliche Umstände recht früh wieder voneinander getrennt wurden und Galen als Sechsjähriger in den Gassen Londons verschwand. Erst nach und nach lernen sie sich besser kennen. Wenn das der eifersüchtige Irving wüsste...




Als er Dorset mit dem Spätzug erreichte, war der Bahnhof verlassen und finster, kein Ort, an dem sich ein Gestrandeter lange aufzuhalten wünschte. Wie anders präsentierte sich der Londoner Bahnhof, wo in jeder Station reges Treiben herrschte und Imbissbuden um den heißesten Snack wetteiferten. Schmerzlich berührt von diesem Gedanken umklammerte er seine aus Lederresten selbstgenähte Reisetasche, deren Trageriemen abgefetzt war, als er mit einem Gepäckständer in der Victoria Station kollidiert und am Bügel des Gestells hängengeblieben war. Während der Fahrt hatte er noch einmal Zeit zum Nachdenken gehabt und war zu dem Schluss gelangt, dass er keine andere Wahl hatte.
Allein Orests wegen musste er zurück. Mr. Blake erwartete ihn zwar ebenfalls, zählte jedoch nicht unbedingt auf ihn. Sein Ausdruck hätte gleichgültiger nicht sein können, sowie Galen sich mit dem Vorwand davonstahl, einige persönliche Gegenstände zu holen.
Wäre das Gespräch mit Orest nicht gewesen, so wäre er vielleicht tatsächlich fortgegangen, Ziel unbekannt. So war er gestrickt. Schwierigkeiten waren dazu da, umschifft zu werden.
Damals, als Irving zu dicht an ihn getreten war und ihn durch die Blume wissen ließ, dass er nicht mehr ohne ihn sein wollte, hatte er genauso mimosenhaft reagiert statt Klartext zu reden. Der unmittelbare Kontakt zu anderen erschreckte ihn. Was er Orest erklärt hatte, traf es auf den Punkt: Beide waren dermaßen verwundbar und durch ihren Werdegang geprägt, dass sie zwischenmenschliche Beziehungen blockierten, nicht zuließen, dass Fremde sich mit ihnen befassten. Ab jetzt gedachte er nicht mehr davonzulaufen. Das wollte er auch Orest vermitteln. Es war nicht gut, arrogant zu sein, anzunehmen, man sei imstande, sich alleine durchzuboxen. Schließlich hatte das niemand von ihm erwartet. Das falsche Bestreben stellte er an sich selbst, hatte es sich regelrecht eingetrichtert, so dass es ihm schwerfiel, anders zu handeln und sich auf Freunde zu verlassen. Das taten Schwächlinge. Dieser Aufgabe hatte er sich allein zu stellen. Falls er sie erfolgreich löste, würde die Einsamkeit nicht mehr an ihm nagen.
Bis zu Blakes Haus war es noch ein Stück Weg, das er gemächlich abspazierte. Dessenungeachtet hoffte er, bis zum Einbruch der Dunkelheit angekommen zu sein. Sie jagte ihm immer noch Angst ein. Weshalb hatte Blake nicht direkt im Ort seinen Hof? Wie dumm, sinnierte er, dass es für nichts im Leben Patentrezepte gab.
An Blakes Haustür klebten immer noch Blutreste in den Einkerbungen der Kassetten. Morgen schrubbe ich sie gründlich, nahm er sich vor. Nichts soll mehr an meinen unkontrollierten Wahnsinn erinnern. Ich bin hier jetzt fürs Erste zu Hause.
Licht brannte, also war der Alte noch auf.
Vor Anstrengung, die Tasche vom Bahnsteig bis hierher in den Armen zu transportieren, keuchte er. Doch er log sich selbst etwas vor. Weniger die Last des Gepäcks brachte ihn aus der körperlichen Gleichmütigkeit, vielmehr das bevorstehende Zusammentreffen mit Blake. Ein Rückzug wäre ihm nun jedoch feige erschienen, da er bereits angekommen war. Ferner hatte er es Orest versprochen.
Das dämmrige Licht als gutes Omen deutend setzte er sein Gepäck auf die Stufe neben sich und klopfte an. Minuten vergingen, in denen er mehrmals versucht war, davonzurennen, bevor Mr. Blake den Riegel entsicherte. Seine geweiteten, blutunterlaufenen Augen glänzten und sahen im Radius der Außenlaterne, die unheimliche Schatten warf, fast schwarz aus. Das Schattenspiel der Lichtquelle akzentuierte die ausgebildeten Konturen der Sehnen auf seinen schlanken, aber muskulösen Armen, auf die Galen zuerst schaute. Irrationale Furcht kroch in ihm hoch und drohte ihn zu überwältigen, während er langsam hochblickte. Mr. Blake überragte ihn schon auf gleicher Ebene um einen halben Kopf; jetzt stand er zudem einige Stufen höher als er und verschaffte sich somit eine überlegene Postion.
Unnatürlich vergrößerte Pupillen und der geradezu nachlässige Auftritt mit dem aus der Hose lugendem Unterhemd ließen in Galen die Befürchtung reifen, er habe getrunken. Manchen gelang es, Unmengen in sich hineinzuschütten ohne auch nur einen Millimeter zu schwanken.
Er schien nicht erfreut über ein Wiedersehen, und er hätte wetten mögen, dass er kurz davor war, ihn zu ohrfeigen und es ihm im Grunde egal war, an wem er seine latente Aggression auslebte. Noch eigenartiger allerdings dünkte ihm seine wahrnehmbare Unruhe. Bisher war er der festen Überzeugung, dass Blake nichts aus der Fassung brachte. Wessen er nun ansichtig wurde, belehrte ihn eines Besseren. Das dunkle, etwas zu lange Haar war zerzaust, als habe er es sich gerauft. Seine sonst eleganten Bewegungen wirkten fahrig und riefen in Galen Nervosität hervor, als er ihn mit einer flüchtigen Geste seiner Hand in den schmalen Korridor hereinbat. Es war ein Fehler gewesen. Er hätte nicht mehr kommen sollen.
Pochenden Herzens nahm Galen den Rucksack auf, unfähig, einen Schritt nach vorne zu tun oder den Blick zu heben. Seiner Einladung spottend verharrte Mr. Blake im Türrahmen wie ein Fels in der Brandung. „Ich bin wieder da.“
„Guten Abend.“ Immerhin seine Stimme war noch die alte, sonor und souverän, wenn auch leicht bebend. „Um ehrlich zu sein, habe ich nicht mehr mit Ihnen gerechnet. Meine Bedingungen waren vielleicht ein bisschen zu hart. Dachte, ich seh’ Sie nie mehr wieder. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es bedauert hätte.“
Der Unterton verriet Selbstmitleid. Gewohnt, auf Stimmen und Timbres zu achten, hörte Galen es heraus und zierte sich. Der Alte sollte nicht der Illusion erliegen, dass er sich nach seiner Gegenwart verzehrt hatte, was im Übrigen auch nicht den Tatsachen entsprach.
„Wenn Sie möchten, verschwinde ich. Ich nehme mir ein Zimmer in einem Hotel und reise morgen früh ab.“
Er erwiderte angespannt den steten Blick und bemerkte Blakes uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die sich dahingehend äußerte, dass er ihn taxierte wie ein Gegner, der die Schwachstellen des anderen erkundete.
„Bis zur nächsten Herberge ist es weit zu Fuß, besonders mit schwerem Gepäck. In Ihrer Tasche scheinen sich Wäsche und Habseligkeiten für Monate zu stapeln. Oder befindet sich darin ein Sortiment Wetzsteine, um Ihr Messer scharf zu halten?“

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