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Leseprobe:
Im Allgemeinen schlief Orest nach dem Genuss eines medizinischen
Cocktails traumlos und lange. Es verwunderte ihn daher nicht, gegen
Mittag eine hastig gekritzelte Nachricht von Irving auf dem Tisch
vorzufinden, in der er ihm mitteilte, dass sie zum See gefahren
seien auf der Suche nach Abkühlung. Wenn er Lust hätte, könne er
nachkommen, aber ihm persönlich wäre es lieber, er würde bei Mr.
Blake ‚nach dem Rechten schauen. ‘
Nach einem erfrischenden Bad lechzte er förmlich und fühlte
nichtsdestoweniger eine unerklärbare Angst in sich aufsteigen, als
er den gestrigen Tag Revue passieren ließ. Zuerst Galens Anfall und
die sonderbare Art, wie er Mr. Blake abgefertigt hatte, dann Irving
mit seinen Vermutungen... er wäre nicht in der Lage, ihnen heute so
früh zu begegnen, vor allem nicht Irvings fragender Miene.
Auf Mr. Blake dagegen freute er sich; er konnte selbst nicht
begreifen, weshalb. Flugs stieg er in seine Beinkleider, knöpfte das
Hemd zu, das er Mr. Blake schuldete und verließ das Wirtshaus ohne
Frühstück. Mrs. Langrish rief ihn energisch zurück, sie hatte ihm
auf Irvings Geheiß ein Lunchpaket geschnürt. Orest bedankte sich
pflichtbewusst, um sich anschließend ohne weitere Verzögerung auf
das Fahrrad zu schwingen, das vor dem Haus noch so verdreht dalag,
wie Galen es verlassen hatte. Mit fremden Gütern ging er nicht
besonders sorgfältig um, dann aber auch nicht mit seinen eigenen
Sachen, was der Grund dafür war, dass er nicht viel mehr sein eigen
nannte als die Fetzen auf seinem Leib. Reichtum verdirbt den
Charakter, zitierte er oft, wenn man ihn darauf ansprach.
Bevor er auf dem Gehöft eintraf, ahnte er, dass etwas geschehen war,
das die Bürger und Nachbarn in Unruhe versetzte; Bauern und einfache
Bürger rotteten sich auf der Straße zusammen und vertieften sich in
hitzige Debatten. Mehrmals schnappte er den Namen Raphael Blake auf,
war jedoch zu schüchtern, sich durch die Gruppe zu winden und der
Sache auf den Grund zu gehen. Die vage Befürchtung, ihm könne etwas
geschehen sein, löste Panik in ihm aus, und so radelte er
halsbrecherisch weiter.
Er lehnte das Rad an die Hauswand und erklomm die Stufen. Vor der
Haustür prallte er zurück: Rotbraune Markungen strotzten wie
Artefakte auf dem alten Holz, auch der Türgriff war voll klebriger
Farbe. Einen Moment überfiel ihn die Reminiszenz an den Auszug aus
Ägypten und das Pessachfest, das anlässlich der Verschonung der
israelitischen Sklaven gefeiert wurde. Um zu unterscheiden zwischen
ihnen und den Tyrannen, hatte Gott die Haustüren seines Volkes mit
Blut gekennzeichnet, nur schien es in diesem Fall auf perverse Weise
umgekehrt.
Der gepflasterte Hinterhof war gesäubert worden, aber wenn man genau
hinsah, konnte man rote Farbe in den Ritzen zwischen den Steinen
erkennen. Der Besitzer war nirgends zu sehen. Überhaupt schien das
Anwesen wie ausgestorben; kein Blöken, Gackern oder Wiehern begrüßte
ihn, die Stille tat beinahe weh.
All seine Sinne geschärft, wagte er es eigenartigerweise nicht, Mr.
Blake zu rufen. Während er den Zaun passierte stutzte er abermals.
Das bis zur trockenen Erde abgeäste Gras war ebenfalls mit Farbe
beschmiert; Schwärme von Mücken fielen darüber her. Da erst
dämmerte ihm, dass es sich nicht um Farbe, sondern um eine
biologische Flüssigkeit handelte, die auf dem gesamten Grundstück
in Spuren verteilt war. Bestürzt drückte er die Hand auf den Mund,
sein anderer Arm ruderte, als er einer Ohnmacht nahe das
Gleichgewicht zu verlieren drohte. Sie hatten Mr. Blake etwas
angetan! Wie hatte er nur so leichtgläubig Irvings Trank akzeptieren
können. Mit Logik war ihr Plan rasch zu durchschauen, doch bar
jeglicher Beweise würden sie davonkommen: Heimlich hatten sie sich
in den Morgenstunden aufgemacht und ihn zu Tode gefoltert, danach
spülten sie die Indizien mit dem brackigen Wasser eines Badesees
fort. Aufgrund der Hitzewelle schöpfte keiner Verdacht, der sie
planschen sah. Aber warum hatten sie Galen mitgenommen? Hatte Irving
ihn letztendlich doch eingeweiht, weil er ihm am Tag zuvor eventuell
ein Geständnis abgepresst hatte, wo er und Orest gewesen waren?
Galen war bei seinen Freunden als äußerst skrupellos bekannt, an
Ausdauer und Kampftaktik Irving weit überlegen. Anders als dieser
bezeichnete er sich nicht als Gentlemankämpfer, der weder kratzte
noch biss und die Regeln einer Prügelei respektierte. Wenn Galen
rang, dann mit dem gesamten Körpereinsatz; der Gegner, der sich
zuvor über seine Schmächtigkeit mokiert hatte, besaß von
vorneherein nicht den Hauch einer Chance, unabhängig von seiner
Konstitution.
Aus dem Stall näherte sich eine Gestalt, die er aus den Augenwinkeln
nur als Schatten registrierte. Instinktiv begann er Luft zu holen, um
einen Schrei auszustoßen, als die Silhouette hinter ihn trat, welche
ihm grob den Mund verschloss und ihm den Arm um die Mitte legend ein
Stück vom Boden hievte.
„Schschscht... nicht schreien, mein Junge.“ Das sonore, leicht
nuschelnde Organ war nicht Irvings und auch nicht Mr. Blakes, er
verrenkte die Augäpfel und erhaschte einen enormen Nasenrücken wie
einen Erker in einem schwammigen Gesicht hervorspringen. Sobald der
Reverend Orests erlahmenden Widerstand registrierte, ließ er ihn
herunter. Aufgeregt kippte Orests Stimme über, als er zu sprechen
begann.
„Mr. de Vere... Reverend. Was ist passiert? Wo ist Mr. Blake?“
De Vere schüttelte den Kopf. „Beim Abdecker, ein paar Lämmer
entsorgen.“
Ein Stein fiel Orest vom Herzen. Er lebte, und er hatte Schafe
geschlachtet. Das Natürlichste der Welt für einen Farmer. Eimer und
Putzlumpen aufnehmend beachtete de Vere ihn nicht weiter und machte
Anstalten, den Hausaufgang zu reinigen. Orest stiefelte hinterher,
obwohl der Mann nicht harmloser wirkte als bei ihrer ersten
Begegnung.
„Wann wird er wiederkommen?“
„Bald. Er ist seit fünf Uhr auf den Beinen. Der arme Mann. Als
hätte er es nicht schon schwer genug... heute Nacht hat irgendein
Verrückter einige der Lämmer abgeschlachtet und ein wahres Blutbad
angerichtet. Überall hat er es hingeschmiert, wie in einem
grässlichen Hexenritus. Unter den Kadavern waren auch Tiere, die ihm
anvertraut wurden. Das ist das Schlimmste an der Sache.“ Während
er das sagte, verschmälerte er die Augen in einer Weise, die Orest
glauben ließ, er verdächtige ihn dieser Aktion. Ganz falsch lag er
damit wohl nicht; er war sich fast hundertprozentig sicher, dass
Irving dahintersteckte. Indigniert wich er einen Schritt zurück; de
Vere schrubbte die Klinke und hatte ihn zu diesem Zweck grob
geschubst. Da er ihn jetzt nicht ansah, tastete sich Orest weiter
vor.
„Wird die Polizei davon erfahren?“
„Wenn es nach mir ginge, schon. Mr. Blake will jedoch keinen
unnötigen Wirbel veranstalten; er meint, wenn es bei einem
einmaligen Ereignis bliebe, würde er davon absehen. Er ist viel zu
milde, wenn Sie mich fragen. Dieses Pack rechnet doch mit seiner
Untätigkeit.“
In diesem Augenblick bog Mr. Blake um die Hausecke, er sah müde und
verzweifelt aus. Orest wandte sich um, plötzlich zappelig vor Angst.
Nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt bohrte Blake die Hand in
seine Schulter, seine Finger brannten wie glühendes Eisen und
dirigierten ihn in Richtung der Straße.
„Ich will Sie nie mehr auf meinem Grundstück sehen.“
„Warum?“ quiekte Orest, er erkannte seine eigene Stimme nicht
wieder. Blake nickte de Vere zu. „Ich weiß nicht, wovon Sie
reden...“
„Sie können gehen, Reverend. Ich muss ein Wörtchen mit meinem
neuen Freund reden.“
Devot deutete der Geistliche einen Diener an und verschwand von der
Bildfläche. Auch ihm schien Blake Respekt einzuflößen. Steif und
merkwürdig kleinlaut wie ein armes Sünderlein stand Orest vor Mr.
Blake. Etwas verständnisvoller als eben bat dieser ihn ins Haus.
Drinnen goss er ihm eine Tasse schwarzen Kaffees ein, der auf dem
Herd vor sich hingeköchelt hatte und bereits einen angebrannten
Nachgeschmack nachwies, aber Orest war dankbar für eine Tasse des
starken Gebräus.
„Sicher hat Ihnen de Vere mitgeteilt, was geschehen ist. Ich habe
hier keine Feinde, darum glaube ich, dass der Täter jemand von
außerhalb sein muss. Ich wollte Sie nicht belasten, aber es ist
schwer zu begreifen, weshalb jemand so etwas Sinnloses und
Barbarisches tut. Ich weiß nicht, aus welchem Grund... wissen Sie,
zuerst glaubte ich, es sei etwas Persönliches, doch ich bin mit
keinem der Nachbarn zerstritten. Im Gegenteil, sie sind alle sehr
hilfsbereit. Und selbst wenn ich Ärger hätte, gäbe es andere,
vernünftige Maßnahmen, ihn aus der Welt zu räumen. Folglich muss
ein Irrer sein Unwesen treiben. Das könnte für die umliegenden
Gehöfte böse Konsequenzen haben.“
Orest zog einen Stuhl hinter sich, ohne Mr. Blake aus den Augen zu
lassen. Trotz seines miserablen Gefühls bezüglich Irvings gedachte
er sich zu vergewissern, dass Mr. Blake nicht ihn für den Täter
hielt. Es war ihm auf einmal wichtig, das zu beweisen
„Was ist mit Ihrem Hund? Hat er gar nichts bemerkt?“
Zeichen innerer Abgekämpftheit spiegelten sich in Blakes Grimasse,
und er massierte seine Nasenwurzel. Orest bewunderte seine Ruhe.
„Meist lasse ich ihn oben auf den Moorweiden, wo er dringender
gebraucht wird. Hier sind die Tiere eigentlich in Sicherheit. Wir
sind mitten im Dorf; normalerweise kein Ort, an dem Verbrecher
ungehindert operieren können. Der Täter muss etwas vom Schlachten
verstehen und die Tiere sofort getötet haben; ich habe keinen Laut
gehört. Er hat ihnen professionell die Kehlen durchtrennt und sie
ausbluten lassen.“
Orest zog unbehaglich die Schultern zusammen, er fühlte sich
schuldig. Eines war klar: Irving machte reinen Tisch, wie es seine
Gewohnheit war. Schächten konnte er, darin hatte er es als
Metzgergeselle zum Meister gebracht wie auf jedem Gebiet. Die
Anekdoten, die er ihm zu Dutzenden im Detail erzählt hatte, wenn er
abends nach Hause kam, hatten Übelkeit und Appetitlosigkeit in dem
kleinen Bruder hervorgerufen, was Irving in seinem Eifer, den Meister
an Geschick zu übertreffen, ganz und gar nicht verstehen konnte.
Falls es gekonnt ausgeführt wurde, litten die Tiere entgegen der
weitläufig verbreiteten Ansicht nicht, sondern waren sofort tot. Was daran abstieß, war einzig das Blut, das aus religiösen Gründen
abzufließen hatte. Als der Meister erfuhr, dass sich sein Stift im
Schächten übte, feuerte er ihn fristlos.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Wir wollten den Zaun streichen.
Galen kommt nicht, aber ich kann es auch alleine tun.“
„Das ist nett, aber nicht nötig. Ich werde mir Zeit lassen und
nachdenken. Es ist nicht so einfach, jetzt zur Tagesordnung
überzugehen. Wo ist Ihr Freund?“
„Ihm geht es heute nicht gut“, log er, aber dann wiederum wusste
er ja nicht, ob es nicht doch stimmte; schließlich hatte er heute
noch keine Gelegenheit gehabt, sich nach Galens Wohl zu erkundigen.
„Schade.“ Echtes Bedauern lag in diesem Wort. „Bestellen Sie
ihm Grüße.“
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