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Sonntag, 10. Januar 2021

Zum Gedenken an Opa Paul

Heute hätte mein Opa Geburtstag. Über hundert Jahre wäre er schon, und ich wette, er hätte sich gefreut, so alt zu werden. Denn mein Opa war ein lebenslustiger Mensch, bis zuletzt. Allerdings - er möge mir verzeihen - nicht unbedingt liebenswert, zumindest nicht, solange er der "alte" Opa war. Er war das, was man am ehesten mit "Opportunist" beschreibt: jemand, der seinen Vorteil auf Kosten anderer sucht, und Leute, die nicht seiner Meinung waren oder er als schwach empfand, hat er offen verachtet oder hinter deren Rücken schlecht gesprochen. Als Kind habe ich das nicht gemerkt; ich war gern bei meinen Großeltern. Erst später wurde mir bewusst, dass meine Oma diejenige war, die mich oft in Schutz vor seinen Spötteleien genommen hat. Eigentlich habe ich ihn nämlich bewundert. Bis ins hohe Alter war er viel unterwegs - hoch zu Ross, mit dem Fahrrad, und später - nach Omas frühem Tod - mit seiner Lebensgefährtin auf Fernreisen um die ganze Welt. Dafür nahm er einige Unannehmlichkeiten in Kauf, vor denen ich selbst in jungen Jahren zurückgeschreckt wäre.

 

In Thailand mit der Reisegruppe

Am Ort kannte man ihn wie einen bunten Hund. Gartenarbeit und seine Rosen waren neben lautem Singen im Liederkranz und auf Ausflügen seine zweite Leidenschaft, und er half häufig den Nachbarn bei der Pflege derselben. Immer auf seine Art, die natürlich keine Kompromisse duldete. Da er keinen Führerschein besaß, musste man ihn sofort und wenn er es wollte, überall hinfahren oder Botengänge für ihn erledigen. Wirklich nicht sympathisch. Und trotzdem denke ich ein bisschen mit Wehmut an ihn. In seinen letzten Jahren hat er sich nämlich geändert und dank meiner Mutter viel aus seinem Leben aufgearbeitet, das für sein bestimmendes Wesen verantwortlich war. Trotz Demenz war es ihm möglich, seine Kriegserlebnisse zu rekapitulieren und die schleichende Vergessenheit mit pflanzlichen Mitteln und dem Gebet seiner Tochter zu besiegen, so dass er am Ende seines Lebens völlig klar war. 

Ins Detail möchte ich nicht gehen, aber ich fand es sehr bemerkenswert, dass er meine Schwester und mich kurz vor seinem Tod mit 92 Jahren allein sprechen wollte. Unter Tränen hat er sich entschuldigt für all das, was er uns angetan hat - bewusst oder unbewusst. Ich war erschüttert, denn ich hatte meinen Opa nie weinen gesehen. Und mir fiel ein, wieviel Gutes auch in ihm gesteckt hat. Sein Lieblingsspruch war "Wo man singt, da lass dich ruhig nieder; schlechte Menschen haben keine Lieder."



Geprägt hat er auch das Keller'sche Weihnachtsfest mit dem schönen Lied "Heil'ge Nacht o gieße du", das er gemeinsam mit den drei Söhnen in studioreifer Baritonlage jedes Jahr zum Besten gab, obwohl es gar kein Weihnachtslied war. Auf seinem Krankenbett hat er das mit meiner Mutter gesungen, nachdem er sich im Pflegeheim nicht ruhigstellen lassen wollte, ins Krankenhaus überwiesen wurde und dort um ein Haar eine Magensonde gelegt bekam. 

Daraufhin nahm meine Mutter ihn mit nach Hause, und wir pflegten ihn mithilfe dreier netter Männer aus Polen, die im Schichtwechsel bei Opa in seinen eigenen vier Wänden blieben und ihm zur Hand gingen. Bis zuletzt blieb Opa geistig wach, obwohl die Nächte oft schwer waren und die Familie auf den Plan riefen, um mit Opa zu beten oder ihn zu besänftigen, wenn er Alpträume und Visionen vom Krieg hatte und um sich schlug. 

Wenn er gut drauf war, nahm ich ihn zu meinem Reitunterricht mit, wo er seine Geschichten als Kavallerist und Reitlehrer mit der ihm eigenen Übertreibung erzählen durfte und alle Mädels dort um den kleinen Finger gewickelt hat. Ein Charmeur war er nämlich, wenn es um Frauen ging... und natürlich ein Experte in Sachen Pferde.

 

Fesch auf dem Zuchthengst Jugol

 

Manchmal vermisse ich ihn. Ich habe auch ehrlich getrauert und viel geweint, nachdem er nicht mehr da war. Innerhalb der Familie gab es den Ausspruch, dass Opa uns alle überlebt. Leider war es nicht so. Aber ich habe den Trost, dass er sich in seinen letzten Wochen zu Gott gewandt hat und ich ihn ganz bestimmt im Himmel wiedersehe, wo er mich mit einem aufmunternden "Auf, Auf, Aaa-auf!" begrüßt.

In dem Sinn, Opa Paul, alles Gute zu deinem Geburtstag!









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