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Dienstag, 16. August 2016

Rezension "Die Überfahrt" ~ Joseph O'Connor (leichte Spoiler!)

Romane über (fiktive) Schiffsfahrten in vergangenen Zeiten liebe ich. Mein Lieblingsbuch in dieser Hinsicht ist "To the Ends of the Earth" von William Golding, zu dem es eine grandiose BBC-Verfilmung in drei Teilen gibt. Man lernt viel über die Charaktere der Passagiere, leidet mit ihnen, kann sich viele eigene Gedanken zum Geschehen auf engstem Raum machen und wie man selbst als Schiffsreisender gehandelt hätte (und ist dann froh, dass es heute bequemere Reiserouten und komfortablere Kabinen gibt - sofern man in der damaligen Zeit (19. Jahrhundert) das Glück hatte, letzteres zugeteilt zu bekommen).

In Joseph O'Connors "Die Überfahrt" werden drei Schicksale raffiniert miteinander verwoben.






Inhalt und Meinung:
1847, zur Zeit der Hungersnot in Irland: Der Lord und ehemalige Großgrundbesitzer David Merridith geht mit seiner Familie und dem Kindermädchen Mary Duane an Bord der "Stella Maris" in der Hoffnung, sich in Amerika ein neues Leben als Architekt aufzubauen, ohne zu ahnen, dass eine Gesellschaft von vertriebenen Pächtern nach seinem Leben trachtet und zu diesem Zweck den Iren Pius Mulvey als Mörder und Mitpassagier auf ihn ansetzt. Mulvey ist vom entbehrungsreichen Leben gezeichnet; er wird von Crew und Passagieren als Sonderling bezeichnet, höflich zwar, aber doch irgendwie unheimlich und abstoßend. Tatsächlich entwickelt man im Lauf der Geschichte keinerlei Sympathie zu ihm, denn er ist nicht nur skrupellos, sondern schwach und opportunistisch und am Ende ein jämmerliches winselndes Etwas.

Die Kapitel werden aus verschiedenen Perspektiven erzählt, oft in Logbucheinträgen vom Kapitän der "Stella Maris", dann wieder aus Sicht des Lords, Mary Duane und Pius Mulvey oder dem amerikanischen Journalisten Dixon, der ein Verhältnis mit der Frau des Lords hat und darauf aus ist, seinen Rivalen bloßzustellen.

"Die Überfahrt" ist kein einfaches oder erhebendes Buch. Ich hatte Schwierigkeiten, in die Geschichte hineinzufinden, was auch an den oft sehr ausführlichen Fußnoten über den historischen Hintergrund lag und der mitunter zu ausschweifenden Eloquenz des Autors, der nicht selten zehn Zeilen für einen Ausdruck gebraucht, um die Vielfältigkeit und Sprachgewalt des irischen Wortschatzes zu unterstreichen. Doch ich mochte Mary Duane, und besonders den feingeistigen und sensiblen Lord David Merridith, der sich als Kind schon in sie verliebt hatte.

Die Rückblenden seiner Kindheit und Jugend sind anrührend beschrieben und zeigen, wie sehr er eigentlich unter seiner privilegierten Stellung und der strengen Hand des Vaters gelitten hat. Zum Ausgleich strebt er ein kameradschaftliches Verhältnis zu seinen eigenen Söhnen Jonathan und Robert an, das nicht ohne Fettnäpfchen vonstatten geht, mir den Lord aber umso liebenswerter erscheinen ließ. Seine Ehe steht schon lange auf der Kippe, nicht zuletzt Mary Duanes wegen, für die er immer noch zaghafte Gefühle hegt. Deren Lebenslauf liest sich - ähnlich wie Pius Mulveys - wie aus einem Dickens-Roman: traurig, trist und dennoch voller Tragödien und Entbehrungen. Beide Männer, die sie einst liebte, sind mit ihr auf dem Schiff, und von beiden erwartete sie Kinder, die entweder bei der Geburt starben oder aus Verzweiflung im hungernden Irland vom Adoptivvater getötet wurden. Bis zuletzt bleibt ihre Herkunft im Dunkeln, doch eine wirkliche Überraschung war sie nicht mehr wirklich, obwohl ich aufgrund des Umfangs des Buches nicht mehr genau weiß, ob sie zu einem früheren Zeitpunkt erwähnt wurde. Auch das Ende des Lords ist abzusehen und vorgezeichnet - selbst wenn der Mord an dem armen Nichtsahnenden angesichts seiner gesundheitlichen Lage zum Schluss der Reise beinahe als Gnadentod zu werten wäre.

Überhaupt: Die Schilderungen von Mord, Elend, Not und Verzweiflung im Allgemeinen und den Zuständen auf der "Stella Maris" im Besonderen sind teilweise recht krass und nichts für zartbesaitete Gemüter. Es geht mir dabei nicht so sehr um die vielen, ohne Zweifel beklagenswerten Todesfälle an Bord, sondern vor allem um die Grausamkeit Mulveys und die fatalistische Hoffnungslosigkeit der Nebenfiguren. Beileibe kein Feel-Good-Buch, aber interessant für geschichtlich Interessierte.

Fazit: Nach einer gewissen (und etwas zähen) Eingewöhnungszeit möchte man schon wissen, wie es weitergeht mit den Charakteren; die Geschichte ist spannend und gut erzählt, doch ganz ehrlich: richtigen Spaß hatte ich bei "Die Überfahrt" nicht. Ein bisschen mehr Leichtigkeit hätte trotz oder gerade wegen des ernsten Themas nicht geschadet. Deprimierend, an einigen Stellen verwirrend, ohne Humor oder einen Funken Hoffnung für die Beteiligten, die mir aufgrund der häufigen Perspektivenwechsel erstaunlich fern bleiben, kann ich den Roman trotz seiner Raffinesse und sorgfältiger Recherche nur Geschichtsfans und geduldigen Stoikern empfehlen.


Bewertung: 





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