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Samstag, 16. November 2013

Das Buch im Buch: Leseprobe "Fairlight"

Im Bücherforum ging es vor kurzem um "Das Buch im Buch." Soll heißen, welches Buch von Protagonisten in einem Roman gelesen oder vom Autor erwähnt wird. Ich fand die Idee so originell, dass ich gleich mal recherchiert habe, ob so etwas in meinen eigenen Romanen auch vorkommt.

Und siehe da, in fast allen meinen Werken wird Bezug auf Klassiker der Literatur genommen. In "Fairlight" spielt sogar ein Gedicht von Robert Browning eine Schlüsselrolle. Ich mag solche auf den ersten Blick unbedeutenden Details, die sich später doch als wichtig erweisen und beim Leser einen Aha-Effekt auslösen.


 


Unter "Weitere Informationen" gibt es die Leseprobe, in der sich Morgan Thorpe als Hobbydetektiv beweist und einiges aus der Vergangenheit der rätselhaften Fairlight-Sippe aufdeckt.

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"Sehen Sie, was ich gefunden habe!" Stolz wie ein kleiner Junge, der auf Lob aus ist, wedelte Thorpe mit seiner Beute herum, als Raeburn in die Gästestube trat. Auch Edward Vaughan, pfeifeschmauchend am Fenster lehnend, absolvierte eine Glanzleistung in Sachen geheimnisvoller Mimik.

"Ich bin mir sicher, man hat uns einen Wink gegeben, Sir." Bezeichnend verdrehte er die Augen gen Himmel.

Eine Prise Ungeduld andeutend, heftete sich Raeburns Blick auf den Wortführer.

"Wäre es zuviel verlangt, mir zu erklären, um was es eigentlich geht, Thorpe?"

"Unter dem Dach gibt es eine Art zweite Bibliothek, die mir allerdings eher wie ein Kerkerverlies dünkte. Was der Inhalt dieses Briefes möglicherweise bestätigt. Er steckte übrigens zwischen den Seiten von Brownings 'Flucht der Herzogin'. Ob das bloß ein dummer Zufall ist? Wenn nicht – davon ist mein Assistent überzeugt – hätte die Lady echten Galgenhumor bewiesen."

"Zeigen Sie her."

Er räusperte sich, bevor er etwas verlegen und umständlich seine Lesebrille aus dem Jackett kramte und den Bogen glättete, den Scharfblick der beiden Kollegen gespannt auf sich fühlend.

Fairlight House, den 9. Februar 1905

Francis, 

Vater hat Euch gestern für mehrere Wochen weggeschickt mit der Begründung, ich bräuchte Ruhe, um ein Herzleiden auszukurieren. Wie alles, was Chester von sich gibt, ist dies eine Lüge, eine Farce, um mich daran zu hindern, das Verbrechen meines eigenen Sohnes anzuzeigen. Daher sperrt er mich hier oben ein, und weil ich ihn kenne, ihm noch größere Schurkereien zutraue, die mich um mein Leben bangen lassen, am dem ich seit meiner unseligen Heirat nicht mehr hänge, will ich Dir das aufschreiben, was mir nie über die Lippen gekommen ist. Ich möchte, dass Du weißt, dass Du und Eugene für mich immer mehr bedeutet haben als James und Frederick, über dessen Tat ich so schockiert bin, dass die Irreführung meines Ehemannes vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit birgt, mein Herz gebrochen ist.

In Deiner Urwüchsigkeit habe ich mich selbst als kleines Mädchen und junge Frau wiedergefunden, auch wenn dies töricht klingt und es Dir wohl schwerfällt, Dir mich unbeschwert und lachend vorzustellen. Als Kind war ich sehr glücklich. Du hast wieder ein wenig Leben in mein Dasein gezaubert, genauso wie der kleine Eugene. Möglicherweise habt Ihr es nie bestätigen können, aber ich hatte durch Euch beide wieder ein Funken Lebensmut gefasst. Dafür bin ich Euch auf immer zu Dank verpflichtet. Leider konnten wir drei nicht gegen die geborenen Fairlights bestehen, doch in Gedanken habe ich es zumindest versucht.

Wie sehr habe ich Dich im positiven Sinne um Deine natürliche direkte Art beneidet! Sei darauf bedacht, sie nicht zu verlieren, sei es durch das Alter oder äußere Umstände. Gleichgültigkeit ist aller Laster Anfang, wenn sie nicht gar das schlimmste von allen ist.

Du hast nie darüber gesprochen, doch ich bin mir ganz gewiss, dass Dein Bruder, über den ich erzürnt hätte sein müssen, da Du ihn als uneheliches Kind meines Mannes ausgegeben hast, nicht sein Sohn sein kann. Von Anbeginn hegte ich keinen Groll gegen Eugene, und das nicht nur, weil meine Ehe schon damals zerrüttet in Scherben vor mir lag. Er zeigt weder körperliche noch charakterliche Merkmale, in denen ich Chester wiedererkannt hätte. Er ist so sanft, so anständig zu seinen Mitmenschen und den Tieren, und er hat Deine dunkle Haut, was ihn bei meinem Mann ohnehin suspekt macht. Ich fürchte, er wird es nicht leichter haben mit Chester, wenn er heranwächst. Sobald sich Euch eine Gelegenheit bietet, Fairlight zu verlassen, solltet Ihr es tun. Dieser Platz ist nicht geschaffen für Menschen wie Du und Eugene. Ihr müsst frei sein, wie es Eure Vorfahren waren, frei von Zwängen und Förmlichkeiten. Lass Dich nicht verbiegen, mein Prinz, und beschütze Deinen Bruder vor diesem Monster, das mein Mann ist. Anders als ich ist er davon überzeugt, Eugene sei sein Fleisch und Blut, doch je überzeugter er davon wird,  je unterschiedlicher sich der Kleine entwickelt, desto größer wird sein Zorn und seine Unvernunft werden.

Eugene ist Dein Geheimnis, Francis, und wer weiß, ob seine wahre Herkunft in dieser Welt enthüllt werden wird. Schon jetzt ist er ein nachdenklicher und außergewöhnlicher Knabe. Pass auf ihn auf, denn Menschen wie er haben es schwieriger als solche von Deinem Schlag. Denn gleichwohl ich entsetzt bin über Frederick, weiß ich, Du bist gefestigt und mit Deinen achtzehn Jahren (obwohl wir Dein Geburtsdatum ja gar nicht kennen; warst Du überhaupt je ein Kind?) reif genug, um ihm irgendwann zu verzeihen. Es ist größtenteils meine Schuld, da ich unfähig bin, ihm das zu geben, was man von einer Mutter erwünscht und worauf jedes Kind ein Recht hat. Ich glaube an Dich als eine Fügung des Schicksals, enttäusche mich nicht. Du bist mein Zigeunerkönig, Francis. Hoffentlich sehen wir uns an einem schöneren Ort wieder.

Alles Gute für Dich und Eugene,

Fiona Clayton

"Eine verzweifelte Frau“, resümierte Vaughan schulmeisterlich, noch ehe Raeburn am Ende des Briefes angelangt war. "Dabei munkelte man, ihre Vergnügungssucht sei geradezu sprichwörtlich gewesen. Da sieht man mal, was dran ist an Gerüchten. Sie sollten gar nicht erst in Umlauf gebracht werden. – Aber dann existierten sie ja überhaupt nicht“, schloss er einfältig und sah sich um, als erwarte er für derartig logische Schlussfolgerungen ein anerkennendes Wort.

 Raeburn tippte das Kuvert leicht an seine Lippen, den Blick aus dem Fenster gerichtet. "Worum geht es in dieser Geschichte, Morgan?"

Eifrig straffte sich der Rothaarige. " 'Die Flucht der Herzogin'? Naja, soweit mir bekannt ist, um eine Frau, die unglücklich mit einem Herzog vermählt wird. Um ihr Anstand beizubringen und eine Lektion zu erteilen, nachdem sie der Passion an seinem Steckenpferd, dem Jagdreiten, nichts abgewann, engagiert er eine Zigeunerin und schickt sie ins Schloss. Entgegen aller Erwartungen werden die unterschiedlichen Frauen Freunde, die Zigeunerin ist gar eine Königin und verschönt die Herzogin, indem sie ihr von der Liebe erzählt, von einer anderen Welt in einer besseren Zukunft. Daraufhin reiten beide weg, niemand kann sie aufhalten." Er kratzte sich am Kopf. "So in etwa. Ist lange her, dass ich es las."

"Das passt“, sagte Raeburn wie zu sich selbst. "Gute Arbeit, Thorpe. Danke."

"Man tut, was man kann, Sir“, wiegelte Thorpe bescheiden ab.

"Nun haben wir die Gewissheit über das, was wir schon vermuteten, nämlich dass die Burschen keinem Adelsgeschlecht entstammen“, verdarb Vaughan die Euphorie seines Chefs. "Ist im Prinzip nichts Neues. Doch was geschah mit der armen Lady Clayton? Was hat sie gesehen?"

"Darüber gibt uns vielleicht jemand Aufschluss, der die Augen nicht verschließt."

Raeburn beschloss, sich von der Sache zu distanzieren, da sie Eugene nicht zu betreffen schien, auf den er sich nun ausschließlich konzentrieren wollte, indes Morgan Thorpe neue Ambition aus seinem Schritt Richtung Auflösung des Holbrooksrästels schöpfte. Ein wenig unzufrieden ob der Zurückhaltung des Kollegen suchte er Eamon Jones auf, welcher nicht zum ersten Mal mit dem armen Finnigan Schindluder trieb. Privat mochte er ein vergnüglicher, kumpelhafter Spaßvogel sein, aber seine schleifende Arbeitsmoral auf Kosten Schwächerer stieß Thorpe sauer auf. Genüsslich fläzten er und dieser feiste O’Teale sich im Stroh, den Halbasiaten mit betont langsamen Anweisungen in alle Winkel scheuchend, um ihm sein geistiges Manko deutlich vor Augen zu führen. Überall hatten sie gusseiserne Tierplastiken aus dem Park abgeladen, die Finnigan unsinnig ohne erkennbare Strategie oder Ziel durch die Gegend schleppte. Ein hilfloser Dulder war Thorpe noch nie gewesen, und so fasste er Finnigans Schulter und zwang ihn, stehenzubleiben. Seine Stimme wurde rau vor Strenge, wenn auch nicht des Jungen wegen, der ihn aus verquollenen Augen, Rosinen ähnlich, hündisch anflackte. "Was tust du denn da, Finnigan?"

"Ich – ähm... weiß nicht, Sir. Führe Befehle aus."

"Welche denn?"

"Wir lehren ihm Disziplin, Mister“, quäkte das unsympathische Organ Philipp O’Teales aus dem Strohhaufen. "Mischen Sie sich gefälligst nicht ein!"

"Ich habe mich sehr wohl einzumischen, wenn eine Kreatur ungerecht behandelt wird. Lassen Sie den Jungen zufrieden."

Schwingender Fäuste tänzelte O’Teale auf Morgan zu. "Sie wollen Scherereien, stimmt' s? Können Sie haben, Mister. Nichts, was ich auch lieber wollte, denn das ist das einzige, was es von mir kostenlos gibt. Habe mich ewig nicht mehr ausgetobt."

Mit einem fiesen Grinsen rückte Jones in eine bequemere Lage, faltete die Hände hinter dem Nacken. So ein Studierter, das war eine halbe Portion, damit würde O’Teale schon fertigwerden. Bevor der Kampf eskalierte, konnte er ja eingreifen, dem Doktor die Chance geben, sich selbst zu verarzten.

"Zeig' s ihm, Phil. Hat eine kleine Demonstration des Darwin'schen Gesetzes verdient, der Quacksalber. In diesem Kurs scheint er gefehlt zu haben. Merkwürdig, wo er doch wie ein geschniegelter Medikus ausschaut, nicht? Da müssten ihm die Grundregeln der Naturgesetze doch geläufig sein."

Die Ruhe bewahrend, krempelte Thorpe seine Manschetten hoch, er ließ sich nicht irritieren von O’Teales Herumgehampel, der immer enger um sein vermeintliches Opfer rotierte, imponierende Beinarbeit verrichtete und anscheinend auf eine klassische Schlägerausbildung zurückblicken durfte. "Ich möchte nur mit Ihnen reden, Jones. Allein, wenn es gestattet ist."

"Ist nicht“, erklärte Jones lapidar, irgendetwas war ihm über die Leber gekrochen; wahrscheinlich hatte er noch keinen Schnaps hinuntergespült diesen Morgen.

"Ich bin also eine Null“, grölte O’Teale. "Hab' nichts zu melden?! Das ist die ärgste Beleidigung, die man einem Iren an den Schädel donnern kann, Sportsfreund! Dafür wird bezahlt!"

Kraftvoll hieb er Thorpe die Faust an die Schläfe. Einen peinsamen Moment lang flimmerten Sterne vor seinen empfindlichen Augen; er fürchtete, unsanft auf den Allerwertesten zu plumpsen. Das Gelächter der Stallburschen brandete auf, während er Finnigans Hand schüchtern an seinem Rock ziepen spürte, dessen Stimme wie aus dem Nebel waberte, akustisch nur schwer zu verstehen. "Kommen Sie, Sir. Die sind kein Umgang für Sie nich'."

Abrupt machte er sich los, atmete ein paar Mal tief durch und schob den quengelnden Finnigan hinter sich. Hier ging es um seine Ehre und Überzeugungen. Das Vergnügen, vor diesen rohen Kerlen klein bei zu geben, wollte er ihnen nicht gönnen. Seine Miene, gewöhnlich ein Spektrum von freundlich bis offen interessiert repräsentierend, verschloss sich, die Halsschlagader schwoll an und trat dick wie ein Strang hervor. Jones zirpte einen gezierten Warnruf, der Thorpe noch wütender werden ließ. Den Überraschungseffekt auf seiner Seite, hagelte es Linkshaken auf den verdutzten Kontrahenten ein. Tatsächlich dachte O’Teale nicht daran, sich zu wehren, selbst die Anfeuerungsschreie Eamons fruchteten nichts. Benommen taumelte er nach einigen wohldosierten Schlägen dem Betonboden entgegen, entleerte den Mageninhalt und drückte sich die kurze Nase zu. Thorpe empfand kein Hochgefühl, im Gegenteil. Er schmeckte Blut auf den Lippen, war aber ansonsten relativ gut weggekommen. Ekel drohte ihn zu überwältigen, in seiner Position hätte es kein gutes Licht auf ihn geworfen, den Stallknecht nachzuahmen. Er riss sich zusammen, säuberte sein Gesicht mit dem Schnupftuch und half O’Teale wieder auf die Füße. "Reizen Sie mich nicht wieder“, mahnte er. "Ich bin mit einer älteren Schwester aufgewachsen."

Unter Wimmern und Stöhnen erlaubte ihm der Ire, sich die Nase und den lädierten Unterkiefer anzusehen. Ziemlich wehleidig sind diese Burschen unter ihrer harten Schale, erkannte Thorpe verächtlich, als er die Kratzer untersuchte. "Sollte es Ihre angeschlagene Konstitution genehmigen, schlurfen Sie ins Haus. Mrs. Falkenberg wird sich Ihrer annehmen. Wenn Sie Glück haben, ist mein Kollege Vaughan bei ihr. Er wird Ihre Schrammen desinfizieren." Aufmunternd klatschte er die Handflächen aneinander. "Los, los! Gehen Sie, bevor Sie an einer Blutvergiftung krepieren!"

"Alle Wetter“, hofierte Jones und spuckte aus. "Das war mal ein Husarenstück oder wie man das nennt. Ich hätt' weiß Gott nicht auf Sie gesetzt. Sehn so schmächtig aus, wenn ich das sagen darf. Und außerdem sind Sie auch noch Engländer. Ja, das war beachtlich für 'n Engländer."

"Hören Sie, Jones. Ich bin nicht gekommen, damit Sie mich über die Verschiedenheiten der Iren und Engländer unterrichten. Eigentlich wollte ich etwas über Lady Clayton von Ihnen erfahren. Sie haben doch bereits hier Ihre Stellung ausgeübt, als sie starb?"

"Jawohl, Sir. Ich weiß aber nicht viel über sie. War 'ne stille, reservierte Dame. Man hat sie kaum zu Gesicht gekriegt, besonders wir Arbeiter nicht. Glaubte, sie sei zu fein für uns. Aber für die Buben hat sie gut gesorgt, das hat sie. Deshalb sage ich nichts Schlechtes."

Thorpe verengte die Augen, bohrte den Finger ins Kinn. "Sie sind eine Anlaufstation für Eugene. Waren Sie das früher auch für die übrigen Jungs? Sie müssen doch jemanden gehabt haben, bei dem sie sich aussprechen konnten."

"Oh, Maria! Nur weil Ihr Gefolgsmann mich mal mit dem Kleinen bespitzelt hat, bin ich nun die Kummertante, die 'Anlaufstation'! Ein titanisches Wort. Gefällt mir, wirklich. Schmeichelt mir. Aber die reden nicht viel. Und von Eugene dürfen Sie keine Philosophien ersehnen. Im Grunde ist er noch einsilbiger als der Rest der Bagage. Wenn er mal den Mund auftut, hört man nach 'ner Zeit gar nich' mehr hin, weil es doch nur Idiotie ist. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag ihn irgendwie, aber kein einleuchtender Satz ist aus ihm rauszuquetschen. Ich denk' manchmal so bei mir, das muss 'ne tolle Geschichte sein. Ohne Sorgen und Gedanken durchs Leben zu spazieren. – Nicht wahr, Finnigan?"

Um Zustimmung heischend stieß er den vor sich hinsabbernden Finnigan in die Seite, die dieser sich daraufhin empört rieb und aus der Schusslinie tappte.

"Es täte Ihnen gut, Eugenes Idiotie und Sorglosigkeit ernst zu nehmen“, erwiderte Thorpe scharf. "Sein Verhalten könnte ein Hilferuf sein."

Beide Pranken in einer zu gleichen Teilen defensiven und geringschätzigen Geste gegen Thorpe gerichtet, winkte Jones ab. "Ach, das sagen Sie, weil Sie Arzt sind und 'n Fremder. Ich hatte den Knaben sein ganzes Leben lang um mich. Glauben Sie, ich hab' mir auch Sorgen gemacht, als ich gemerkt hab', da stimmt was nicht. Das war so um den Tod der Lady herum, da fing er an zu spinnen. Aber seine Marotten tun niemandem was zuleide, was soll' s dann? Natürlich stellt er gelegentlich mal die Bude auf den Kopf. Umgekommen ist dabei noch keiner. Bis auf das eine Mal." Er kicherte geheimniskrämerisch in sich hinein, als wäre das ein köstlicher Schabernack. Vermutlich will er mich auf die Folter spannen, sann Morgan Thorpe und konstatierte verdrießlich, dass dem Kerl dies auch gelang. Seine zur Schau getragene Gelassenheit zahlte sich aus; unaufgefordert redete Jones nach einer kurzen bedeutungsschwangeren Pause, in der er die passenden Formulierungen erwogen hatte, weiter. Selten fand er so dankbare Zuhörer wie den Doktor. "Einmal, er muss neun oder so gewesen sein, da hat er sich ständig eingebildet, er werde von einem schwarzgekleideten riesengroßen Mann bedrängt, der die Pest im Gepäck hat und ihn vergiften will. Das hätten Sie sehen sollen! Sind jung und nicht so unbedingt erfahren, nehm' ich an. Bestimmt hätten Sie den Schreck Ihres Lebens ergattert und nie mehr zum Köfferchen gegriffen. Wär' Ihnen glatt vergangen, den Halbgott zu markieren. Der Junge war wie wahnsinnig, wir hätten das alle nicht vermutet, wo er doch so klein und zart war, immer noch ist. Hat um sich geschlagen, geschrien ohne Ende, grässlich war das. Wie von bösen Mächten besessen. Tag und Nacht. Ich erinnere mich noch, dass ich den Rosenkranz gebetet hab' wie ein Weltmeister und dem Teufel meine Seele versprach, damit die Raserei endlich aufhörte. Einzig Francis durfte sich ihm nähern, ohne dass er gleich explodiert ist, aber auch nur vorsichtig. Und das, wo sie eigentlich ein Herz und eine Seele sind. Muss ihm sehr wehgetan haben, dem jungen Master. Wir schätzen ihn nicht besonders, er is' nicht zimperlich mit dem Personal, wenn Sie kapieren, was ich meine. Haut auch mal drauf, wenn ihm etwas nicht passt. Aber in der Zeit hat er mich wirklich gedauert. Schlich herum wie eine lebende Leiche. Das Schlimmste dabei war, dass der Kleine alles angezündet hat, wahllos, einfach alles, und später sich selber, um den Verfolger zu liquidieren, wie er sagte. Irre, nicht? Zum Glück war der Bruder in Reichweite, hat das Ärgste vereitelt. Den Stall hier haben wir neu aufgebaut, nachdem der Knabe den alten niedergefackelt hat. Brennt wie Zunder, mit dem Holz und der Menge Stroh, das sei beteuert bei der Mutter Gottes. Es war kein gutes Jahr, obwohl der alte Alfred und ich die meisten Gäule retten konnten. Die Fohlen in den hinteren Boxen sind erstickt. Ich glaube, Fairlight trägt seinem Sohn das Desaster heute noch nach. War ja auch kein Pappenstiel. Das Gut wird durch die Pferdezucht bewirtschaftet, wie Sie wissen. Bevor er sein Zimmer in Brand gesteckt hat und somit das gesamte Anwesen, hat ihn Francis zur Räson gebracht. Keine Ahnung, wie. Der Vater sicher ebenfalls, mit herkömmlichen Methoden. Die müssen viel schlucken, die Jungen. Ich hab' schon gesagt, wenn ich mal Sprösslinge hab' mit Molly, kein Härchen wird denen gekrümmt. Die sollen doch nicht alle verrückt werden." 

"Hat er solche Zustände häufiger?"

"Master Eugene? Nicht wirklich. Legte sich mit der Zeit. Wird Francis' Verdienst sein. Er hat sich rührend um ihn gekümmert, mit ihm geredet, ihn ernst genommen, obgleich es totaler Schwachsinn war, was der Junge faselte. Woher soll denn ein schwarzer Mann kommen, frag' ich Sie, und noch über zehn Fuß hoch? Abgesehen davon, dass sowieso niemand hier herfindet, es sei denn, er verirrt sich so wie Sie und Ihre ehrenhaften Kompagnons."

Um auf gleicher Höhe mit dem Stallburschen zu sein, der sich immer noch im Stroh rekelte, ging Morgan in die Hocke. Er wollte ganz genau die Reaktion des Iren auf die folgende Feststellung prüfen.

"Für einen gemeinen Knecht verfügen Sie über ein erstaunlich detailliertes Wissen über die Familie, Jones."

Jones zeigte mit dem Finger gespielt anklagend auf Thorpe. "Höre ich da eine versteckte Andeutung? Sie unterstellen mir doch nicht etwa eine Romanze mit der Lady oder so etwas? Gott behüte! Sie war nicht einmal mein Typ. Wissen Sie, Sie haben mir sozusagen meinen Job geklaut. Wenn einer der Söhne krank ist, kommen sie zu mir. Ich bin ein bisschen bewandert in der Pflanzenheilkunde. Oft hilft ein Kräutertrank, um irgendwelche Zipperlein zu lindern. Wirkt meist Wunder. Ihr Ärzte hört das nicht gerne, aber es ist so. Könntet noch was von mir lernen, wenn ihr nicht so eitel wärt. Also, ich wurde freilich ins Haus beordert“, tönte er wichtigtuerisch. "Daher hab' ich Master Eugenes Anfälle hautnah miterlebt. Bloß war das vergebene Liebesmüh', wie der Dichter sagt... war nur eine Mixtur Pflanzenextrakte, und trotzdem hat es absolut nichts genützt. Wurde, wenn ich ehrlich bin, sogar schlechter. Plötzlich sah er den Schwarzen überall, und hat gebrüllt, dass einem angst und bange wurde." 

Die Auskunft wurde von Thorpe mit einem Augenrollen quittiert; der selbsternannte Wunderheiler hatte offenbar irgendwelche Drogen zusammenfabriziert, auf die Eugenes Wahrnehmungsvermögen negativ gekontert hatte. Auf seinem Weg hierher hatte er ein Feld voll Mohn passiert, die reinste Versuchung für Experimentierfreudige, aber harte Kost, wenn man nicht wusste, in welcher Dosis das Opiumrezept zu mischen war.

"Nein, Sir. Wer klug ist, hält sich aus den Sippenverhältnissen raus. Das hat uns der gute Alfred gelehrt. Wenn er auch im Übrigen nicht zu viel getaugt hat, sein Tod war für uns alle 'ne Flammenschrift."

"Alfred war O’Teales Vorgänger?" kombinierte Thorpe. Man musste diesen Jones zu packen wissen, ihm die Fragen verblümt auftischen, dann wurde er trotz seines Vorsatzes zu schweigen, gesprächiger.

"Mhm." Zusehens blühte der bärenhafte Eamon Jones auf. "Es ist aber äußerst gefährlich, was Sie da mit mir treiben. Auf jeden Fall für mich. Ich könnte meine lukrative Arbeit verlieren. Wenn Sie wollen, dass ich Sie über Alfreds Dummheiten informiere, muss wenigstens was dabei herausspringen."

Gierig rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander und demonstrierte ein schmieriges Lächeln. Thorpe zog die leeren Manteltaschen nach außen, zuckte mit den Achseln.

"Sie haben doch Geld“, mutmaßte Jones widerwillig.

"Vielleicht“, antwortete Thorpe süffisant. "Doch erpressen lasse ich mich nicht. Was halten Sie von einem fairen Handel? Sie erzählen mir von Alfred, und ich gebe Ihnen eine Flasche Branntwein dafür."

"Nun erpressen Sie mich“, erkannte Eamon. "Naja, ist ja nicht so, dass ich nicht mit mir reden lasse. Zwei, noch eine für meinen Freund, dann ist der Handel perfekt."

"Fein. Aber die Wahrheit, Jones. Wenn ich Sie beim Lügen erwische, können Sie den Schnaps in den Wind schießen."

Sich zierend wie ein junges Mädchen, senkte Jones den Blick, sortierte gedankenverloren ein Bündel Strohhalme. "Der gute, alte Alfred. Er hielt einen Sonderposten inne, müssen Sie wissen. Die Lady und er mochten sich. Nicht wie Sie denken, er ging schließlich stramm auf die Sechzig zu. Nur erlaubte es ihm seine privilegierte Stellung, neben der Stallarbeit noch andere Gefälligkeiten für Lady Clayton zu erfüllen. Eines Tages stürzte sie verstört zu uns, was an sich schon wert gewesen wäre, die Flaggen zu hissen. Ließ sich wirklich selten sehen bei uns. Aber das sagte ich schon, nicht? Sie hatte einen Brief in der Hand, den sie Alfred anvertraute mit der Bitte, ihn zu ihrer Freundin in der Stadt zu bringen. Alfred, treu ergeben bis in die Zehenspitzen, machte sich sofort auf den Weg. Unterwegs verließ ihn die eiserne Disziplin, und die verdammte Neugier siegte über seine Loyalität. Ums kurz zu machen, er hat unglücklicherweise das Siegel gebrochen und die Nachricht gelesen. Nun konnte er ihn nicht mehr verschließen ohne dass es aufgefallen wäre, dass er zuvor geöffnet worden war, deshalb ritt er zurück und präsentierte mir völlig aufgewühlt den Brief. Das war starker Tobak, ich schwör' s Ihnen bei meiner seligen Mutter." 

"Was stand denn darin?"

Misstrauisch spähte Jones in alle Ecken. "Sind wir allein? Schauen Sie vor der Tür nach, sonst erzähle ich nichts mehr. Hau' ab, Finn, das ist nichts für eselige Löffel."

"Sir... Ich sage bestimmt nichts“, bettelte Finnigan.

"Warum gehst du nicht zu Nellie in die Küche?" schlug Thorpe freundlich vor. "Ich glaube, sie backt Brot. Vielleicht kannst du ihr behilflich sein."

"Oh... Miss Nellie... ja, das tu' ich. Ich bin ein Meister im Brotbacken. Meine Mum hat' s mir beigebracht."

Beflügelt von der Aussicht, vor seiner Herzensdame mit Talent zu glänzen, war er verschwunden, Thorpe beglückwünschte sich im Stillen für sein ansonsten wenig ausgeprägtes diplomatisches Geschick.

"Haben Sie eine Zigarette?" fragte Jones. "Dann gehen wir hinters Haus und reden dort. Ich hab' ein mulmiges Gefühl, wenn andere mithören." Verständnislos drehte sich Dr. Morgan Thorpe um die eigene Achse, bis ihm bewusst wurde, dass Jones mit den 'anderen' die Pferde meinte. Höchstwahrscheinlich legte jeder der eingesessenen Fairlightbewohner über längere Zeit Macken an den Tag.

Sie setzten sich auf eine marode Bank, von der Thorpe fürchtete, sie breche unter Jones' breiter Gestalt zusammen oder katapultierte ihn selbst in luftige Höhen, sobald der schwere Ire sich mit ihm dort niederließ. So dicht wie möglich zwängte er sich an Jones, an der Grenze des Unaufdringlichen.

"Ein pikantes Thema“, fuhr dieser fort, inhalierte den Rauch und sah geradeaus. "Aber rasch erzählt. Master Frederick ist anders in gewissen Bereichen. Haben Sie vielleicht schon spitzgekriegt, Sie sind ja ein helles Kerlchen. Er – nun ja, er zieht den Umgang mit Männern vor. Wundert eigentlich nicht, wenn Sie sich unsere Damenwahl betrachten." Er stieß ein bissiges Lachen aus. Um ihn nicht aus dem Konzept zu werfen, überging Thorpe die überflüssige Mokerie kommentarlos, doch er verurteilte Jones' beleidigende, unschickliche Bemerkung. Das Zimmermädchen mochte schüchtern sein, aber keinesfalls nicht eines zweiten Blickes wert. Er fand sie sogar ausgesprochen attraktiv.

"In dem Brief teilte die Lady ihrer Busenfreundin mit, sie habe ihn und Master Francis in eindeutiger Pose flagrantviert. Die beiden waren so schlampig, die Tür nicht zu verriegeln. Vermutlich hat sie die Leidenschaft übermannt." Wieder das garstige Gelächter. "Ich war nicht sehr überrascht, das zu lesen. Hatte öfter das Vergnügen, ihre Gäule zu satteln, wenn sie erklärten, den Red Lion besuchen zu wollen. Meine Puppe schenkt da aus, wissen Sie, und sie hat die beiden Lords nie gesehen. Sie blieben dann über Nacht weg, ich meine, sie hatten irgendwo ein Versteck, wo sie ungestört ihrem Hang frönten. Im Winter war es dort wohl aber doch zu kalt. Und so hat die Lady sie erwischt. Francis war ihr erklärter Liebling. Sie war überzeugt, Frederick habe ihn - kompromittiert, wollte die Polizei verständigen in der Absicht, ihn verhaften zu lassen. Damit hat sie offenbar auch dem alten Fairlight gedroht, denn der schloss sie daraufhin oben im Burgfried ein, schickte die Söhne bis auf Francis zu seiner Schwester nach Cardiff. Die Lady ging ein in ihrem Gefängnis, ist innerhalb weniger Wochen verwelkt wie 'ne Blume ohne Sonnenschein. Ich behaupte, sie hat sich vor Einsamkeit und Verzweiflung das Leben genommen, habe das aber selbstverständlich für mich behalten. Alfred, der blöde Tropf, ließ im ganzen Dorf verlauten, Chester Fairlight habe sie auf dem Gewissen. Sprach sich rum, kam selbst dem Alten zu Ohren. Die Konsequenz davon war, dass Alfred bald darauf mit 'nem Strick um den Hals am Pfosten baumelte. Das war Mord, mein lieber Doktor, und zwar eiskalt eingefädelt von Fairlight.“ Auf einem Grashalm kauend deutete er in Richtung des von diesem Ort aus unsichtbaren Vorgartens. „Dort drüben ruhen - verscharrt in einer Mondnacht - Alfreds arme Gebeine neben denen der Lady, ohne kirchlichen Segen, ohne Grabmal. Uns – dem Gesinde – hat er damals ein Schweigegelübde abgerungen, das ich nun Ihrer verfluchten Neugier wegen breche. Dafür sind mindestens drei Brandys drin, weniger ist mir mein Job nicht wert. Vielleicht war auch Francis an der Sache beteiligt, obwohl ich das bezweifle. Er scheint mir ein wenig gespalten zu sein, was das Personal angeht. Einerseits macht er uns mit Vorliebe zur Schnecke, andererseits setzt er sich für uns ein, wenn der alte Master in seinem Jähzorn zur Peitsche greift. Ungerechtigkeit kann ich ihm nicht vorwerfen, ganz gleich, was ich sonst von ihm denke. Den alten Alfred hat er sehr geschätzt, verstand eine Menge von Pferden und war zuverlässiger als die jungen Stallburschen heutzutage. So, jetzt hab' ich mir den Mund fusslig geredet, meine Kehle ist vollkommen ausgedörrt. Wo bleibt die Belohnung?"


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