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Freitag, 15. Juli 2016

Review "Der Mann ohne Gesicht" (1993) ~ Mel Gibson - Leichte Spoiler -

Filme wie diesen muss man suchen. Eine Perle, die heute kaum jemand mehr kennt, und Mel Gibsons Regiedebüt (für die Küken unter uns: der Michael Fassbender der 1980er und 1990er Jahre), ist "Der Mann ohne Gesicht" eine Charakterstudie zweier Menschen, die sich aufgrund ihrer Andersartigkeit und der Reaktion auf ihr soziales Umfeld finden und sich gegenseitig helfen. Das Thema ist nicht neu, und dennoch habe ich es selten so sensibel und zugleich unterhaltsam umgesetzt gesehen.



Inhalt: Sommer 1968: Der zwölfjährige Charles lebt mit seinen beiden nervigen Halbschwestern und der heiratswütigen Mutter in einem Küstenort in der Nähe von Boston. Aufgrund gelegentlicher Absencen und Konzentrationsschwäche gilt er als geistig minderbemittelt und besteht die Prüfung zur weiterführenden Schule nicht. Da er jedoch unbedingt aufs College möchte, lernt er durch einen Zufall oder die Fügung den ehemaligen und schroffen Lehrer Justin McLeod (Mel Gibson) kennen, der in einem großen Haus am Rande der Stadt mit Hund und Pferd ein Eremitendasein führt. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellt. McLeods Vergangenheit und die Brandnarben an Gesicht und Körper stempeln ihn zum Freak und "Matschkopf" ab, und der Dorfklatsch tut ein Übriges. Charles "Chuck" Norstadt lässt sich weder von Gerüchten noch von der abweisenden Art McLeods einschüchtern, und bald entwickelt sich eine Freundschaft, von der beide profitieren. Chuck findet eine Vaterfigur in McLeod, während dieser neuen Lebensmut schöpft. Doch die Beziehung der beiden ungleichen Außenseiter bleibt nicht ohne Aufsehen und Folgen...

Meinung: Allein die Zeit, in der die Geschichte spielt, finde ich faszinierend. Retrocharme, wenn er gut gemacht ist, kann ich mich nicht entziehen. Und er war gut gemacht! Eine Citroen DS, niedliche, altmodische Küstenwohnungen, bunte Mode, das sommerliche Setting und Flower Power-Flair tragen viel zur Atmosphäre bei, und die Schauspieler wirken ebenso authentisch. Besonders Mel Gibson als McLeod liefert eine Glanzleistung. Zwar hat der Mann durchaus keinen Grund zum Lachen, doch man spürt als Zuschauer, dass er sich mit der Situation abgefunden hat, wenn auch recht widerwillig. Er gibt sich die Schuld an dem Unfall, der zu seiner Entstellung führte, meidet Gesellschaft und geht erst nach Geschäftsschluss im Krämerladen einkaufen, um niemanden zu begegnen.

Durch Chuck lernt er allmählich wieder, sich gebraucht und akzeptiert zu fühlen. Umgekehrt geht es dem Jungen genauso; seine Zuneigung zu dem älteren Mann hat fast schwärmerische Züge, und auch das war schön und unschuldig porträtiert von dem damals vierzehnjährigen Nick Stahl. Gelegentlich war er mir ein bisschen zu aufgedreht, aber naja, Chuck ist ein Prepubertierender mit Geltungsbedürfnissen, und er hat mit McLeod viel nachzuholen, was er in seinen harten ersten Lebensjahren nicht erfahren durfte. Ein wenig Klischee wie die idealisierte und dann zerstörte Vater-Sohn-Beziehung musste auch rein, aber da der Film so toll ist, war das völlig ok. Weniger toll fand ich die etwas zu schwülstige Musik von James Horner, der damals wohl schwer gefragt war. Da wären moderne Evergreens passender gewesen - bestimmt gibt es welche, die melancholisch genug sind ("Moon River" zum Beispiel, das auf einer Party gespielt wird). Oder etwas weniger Schweres.

Gänsehautmomente gab es viele. Sehr berührend ist die Szene, in der McLeod im Rahmen von Charles' Prüfungsvorbereitungen Shakespeares "Kaufmann von Venedig" zitiert, und ich glaube, ich muss die Szene youtuben.





Am allerbesten gefallen hat mir allerdings das Haus - fast schon eine Villa - in der Mel Gibson haust. Und die psychologische Komponente des Films. Nicht nur, dass sich zwei "Freaks" fanden - sie haben ihre Ängste und Schwächen mit gegenseitiger Hilfe überwunden und konnten ihrem Leben Sinn geben. Gut daran war auch, dass McLeods Vergangenheit relativ offen bleibt und man als Zuschauer nicht genau weiß, wie und wo er sein neues Leben begonnen hat und ob er am Ende kein Eremit mehr ist. Trotzdem ein stilles, hoffnungsvolles Feel-Good-Movie mit der richtigen Balance zwischen Unterhaltungs- und Besinnlichkeitsfaktor, ohne in Kitsch abzudriften.

Fazit: Hätte für mich das Zeug zum Klassiker. Aber das hat ja dann "Braveheart" ein paar Jahre später geschafft.

Bewertung:

und ein halber