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Dienstag, 4. Juli 2023

"Du bist Ich - Die Geschichte einer Täuschung" ~ Joan Aiken

Von Joan Aiken habe ich vor langer Zeit mit Ohrenschmerzen im Bett und einer Kanne Kaffee "Fanny und Scylla" verschlungen. Eingedenk der Tatsache, dass mich "Du bist Ich" nicht so wirklich vom Hocker gehauen hat, würde ich heute vermutlich dabei einschlafen. Was ja auch nicht das Schlechteste ist, wenn man das Bett hüten muss... Erzählen jedenfalls kann Joan Aiken.



 Inhalt: England, um 1815. In einem Mädchenpensionat lernen sich die Amerikanerin Alvey Clement und die Engländerin Louisa Winship kennen. Charakterlich sind sie völlig verschieden, doch äußerlich sehen sie sich zum Verwechseln ähnlich. Obwohl beide sich nicht gut verstehen, gelingt es der beharrlichen und zielstrebigen Louisa, Alvey dazu zu überreden, zu Louisas Familie nach Northumberland zurückzukehren und sich als Louisa auszugeben, während diese eine Passage gen Indien nimmt, um Missionarin zu werden. Alvey dagegen möchte Schriftstellerin werden und hat - laut Louisa - auf Birkland Hall die besten Voraussetzungen, ihren Roman in Ruhe zu Ende zu schreiben. Dabei bedenken beide junge Damen weder die Liebe noch die vielzitierten Irrungen und Wirrungen - und die nichtsahnende Waise Alvey alias Emmy sieht sich plötzlich mit Familienbande konfrontiert, denen sie sich zunächst am liebsten entziehen möchte. Mit der Kriegsheimkehr von Bruder James in Begleitung seines Freundes und Militärarztes Guy Fenway entstehen noch mehr Probleme. Nicht nur, dass Alvey droht, ihr Herz zu verlieren - eine Trägodie am Löwenteich überschattet ihren gesamten Aufenthalt auf Birkland Hall, in den sie sich nach und nach mit viel Einfühlungsvermögen integriert und die Gunst der Familie Winship gewinnt. Und nicht zuletzt gewinnt sie selbst Kenntnis davon, dass das Leben oft anders ist als in Romanen. Zumindest nicht immer so lustig und vergnüglich wie das ihres Protagonisten Lord Love, mit dem sie am Ende den großen Coup landet (ich war ein bisschen neidisch...).


geralt /  Pixabay

Meinung: Zuerst hatte ich eine Art "Doppeltes Lottchen" erwartet, da die Ausgangssituation ähnlich ist. Aber natürlich ist Erich Kästners Klassiker ein Kinderbuch und nimmt daher schon einen ganz anderen, etwas einfacheren Lauf. Die Verstrickungen in "Du bist Ich" sind sehr viel tragischer und komplexer. Allerdings war mir außer Alvey keine der Figuren wirklich sympathisch. Die eigensüchtige Louisa war das eine Übel, aber ihre Familie fand ich auf ihre eigene Weise auch recht eintönig und schrecklich - jeder verurteilt und hasst der/die/das, was anders und ein bisschen unbequem ist, wie z.B. Parthie, die unausstehliche Schwester Louisas, von denen sie übrigens eine Menge hat.

Für den miesepetrigen Vater Sir Aydon zählen Mädchen gar nichts (bis Alvey auftaucht), und seine beiden Söhne betrachtet er als Schwächlinge, weil sie sich nicht seinen Plänen unterordnen wollen bzw. können. Teilweise war es schwierig, die Verwandtschaftsverhältnisse zu durchschauen. Aber das nur nebenbei. In weiten Strecken habe ich den Erzählstil genossen und bin länger am Buch gesessen, als ich eigentlich sollte (bin momentan sehr eingespannt); das hat mich doch überrascht. Das Ende allerdings war meiner Meinung nach ziemlich vergeigt. Spannung kam überhaupt nicht mehr auf, und wenn schon, dann gab es nur eine kleine Wendung, die ich an anderer Stelle in einen Spoiler setzen würde. Leider gibt es diese praktische Funktion auf meinem Blog nicht, so dass ein Weiterlesen nicht empfehlenswert ist, wenn ihr euch das Buch noch zulegen möchtet. 

Spoiler: Dass Alvey zum Schluss auf alles verzichtet, was ihr zunächst erstrebenswert schien und sie sogar einen Antrag ablehnt, der ihr Sicherheit für die Zukunft verheißen hätte, war schon ein Ding. Das hätte ich von einem Roman, der eher so vor sich hinplätschert, nicht gedacht. Vielleicht zeigt ihr Entschluss die Reife und Emanzipation, die sie sich auf dem Jahr in Birkland Hall aneigenen musste, um als Familienmitglied der Winships akzeptiert zu sein. Und das, obwohl fast jeder sofort gespürt hat, dass dieses Mädchen nicht Louisa sein kann. Die kehrt übrigens noch einmal zurück, denn auch bei ihr kommt es anders, als man denkt.

Fazit: Ein historischer Schmöker, der einem die Zeit von damals nahebringt und durchaus lesenswert ist. Wäre das Ende generell nicht so lahm (vor allem, was das Rätsel um den Löwenteich betrifft), würde ich vier Sterne vergeben. 

 

Bewertung: 💫💫💫 und ein halber 💫