Nachdem Renoir einen Verdacht gegen seinen Patienten Valentine hegt, beschließt er, diesen damit direkt zu konfrontieren.
Achtung: Dieser Ausschnitt enthält einen sogenannten Spoiler!
~~~
„Wo haben Sie christliche Lieder
gelernt?“
Keuchend kletterten sie die
Anhöhe nach Escaray Hall hinauf, Valentine zeichnete sich vor Renoir wie eine
Silhouette aus einem Scherenschnitt ab.
„Auf dem Internat“, sagte er,
als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt. „Ich habe mich prächtig unterhalten.
Es war mein erstes Weihnachtsfest im kleinen Kreis, fast wie in einer Familie.
Danke, dass Sie mich nicht verraten haben. Einen Moment sah es so aus. Sie
wollten mir den Pudding ausreden, richtig?“
„Er war nicht koscher“, gab
Renoir zurück.
Der Junge lachte. „Sie haben gut
aufgepasst. Aber es ist mir gleichgültig. Ich will keine Zwänge mehr.“
Das war Renoirs Stichwort.
„Zwänge, die Ihnen Ihre Familie auferlegte?“
Der Atem des anderen stockte, er
verharrte und drehte sich halb zu Renoir um. „Pardon?“
Renoir packte Valentine am Arm.
„Schluss mit dem Theater! Sie haben mich gut verstanden! Erzählen Sie mir von
Ihrem grässlichen Elternhaus, von Vater und Mutter, die Ihre Schwester mehr
mochten als Sie! Und wie sehr Sie sich zurückgesetzt fühlten durch den
Entschluss Ihres Vaters, Sie an einer weltlichen Hochschule anzumelden. Sie
sehnen sich nach Zuneigung, aber auf diese Weise werden Sie sie nie erhalten.
Das nennt man krankhafte Eifersucht, Jean.“
„Sie sind ja betrunken“,
murmelte Valentine. „Und Sie haben versprochen, mich nicht so zu nennen.“
„Jean-Lucien ist nun mal Ihr
richtiger Name“, rief Renoir. Er hatte erwartet, die kalte Nachtluft blase
Klarheit in seinen Schädel, aber die Scheinheiligkeit des Jungen machte ihn
rasend. Plötzlich war er von seiner neugewonnenen These vollkommen überzeugt.
Abermals schüttelte er ihn und
ließ ihn dann abrupt los, so dass Valentine zu Boden stürzte, sich beim
Abfangen die Handballen an einem spitzen Stein aufriss und sich einen
Schmerzenslaut verbiss.
„Sie stecken mit Ihrem Onkel
unter einer Decke! Sie versuchen, mich zu blenden! Aber ich lasse nicht mit mir
spaßen, Jean! Dafür ist die Lage, in der Sie sich befinden, viel zu ernst. Nach
dem Gesetz waren Sie noch ein Kind und daher vermindert schuldfähig! Wenn Sie
geständig sind, wird man Ihnen einen fairen Prozess machen.“
Valentine zwinkerte
verständnislos, ein nervöser Tick in seinem Gesicht ließ seinen Kaumuskel
mahlen. „Geständig? Worüber?“
Jetzt platzte Renoir der Kragen.
„Sie haben Ihre Eltern umgebracht, und Sie hätten auch Escaray getötet, haben
es vielleicht sogar getan und seine Leiche irgendwo versteckt, wo man sie nicht
findet! Weil Ihr Vater ein Waschlappen ist und sich herausstellte, dass Ihr
‚Retter’ es ebenfalls war! Was Sie brauchten, war ein Vater wie Benjamin
Whitehurst, jemand, der Ihrem kriegerischen Naturell entspricht und Sie
dementsprechend formt. Hat er Sie nicht nach Nordfrankreich geschickt? Oh, er
sagt, es wäre allein Ihre Idee gewesen, denn das, was dabei herauskam, war
nicht in seinem Sinne, gehörte nicht zur Taktik. Darum musste ich auf den Plan
treten und ein paar Abrakadabras über Sie sprechen. Aber so einfach und schnell
ging es dann doch nicht, deshalb fasste Ihr Onkel den Entschluss, in Schottland
zu warten, bis ich Erfolge an Ihnen verbuche. Ich will Ihnen etwas sagen: Er
kann dort meinetwegen versauern! Ich reise ab! Sie sind tatsächlich krank, doch
wer Hilfe sucht, muss ehrlich zu sich und anderen sein. Um Ihre Eltern trauern
Sie genauso wenig wie um Pauline, die in Ihrem Leben stets die Rolle der
Rivalin eingenommen hat.
Sie spielen mir etwas vor, und –
Chapeau! – das so überzeugend, dass ich Ihnen beinahe geglaubt hätte!“
Entsetzt riss Valentine den Mund
auf, er rappelte sich hoch und hielt Renoir fest, der im Begriff war, an ihm
vorbeizustapfen. Mit einer Passivität, die ihm selbst fremd war, starrte der
Arzt auf Valentine hinunter.
„Bitte hören Sie mich an! Ich
kann nicht verlangen, dass Sie mir glauben, aber hören Sie wenigstens zu! Ich
hätte nie ein Gewehr auf meine Familie richten können, abgesehen davon, dass
ich doch gar keines besaß. Ich liebte sie von ganzem Herzen, und das tue ich
noch!
Onkel Benjamin hasse ich für
das, was er mir angetan hat in der Zeit nach meiner Heimkehr und Jahre zuvor
Carrick Escaray. Aber mein Vater – ich habe Ihnen doch von ihm berichtet. Er
war ein Mann, in dessen Fußstapfen zu treten sich jeder wünscht. Freilich
verfügte er nicht über denselben religiösen Fleiß wie Onkel Benjamin, und ja,
er war in mancher Hinsicht vielleicht zu weich mit uns Kindern, aber Mutter
sorgte für eine anständige Erziehung. Bevorzugt wurde keiner, und wenn doch, so
war ich es als der Jüngere. Ich hatte nie Grund zur Eifersucht, meine Schwester
liebte mich, und ich liebte sie.
Wir wuchsen ganz normal auf, und
es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Junge aus großbürgerlichen Verhältnissen in
eine Eliteschule geht. Damals freute ich mich darauf. Aber nicht, weil ich
meine Eltern nicht mehr sehen wollte, sondern weil Vater mir erklärte, dass
Reisen die Erfahrung und Kultur erweitert.
Dass meine Herkunft ein Ärgernis
für einige auf dem Internat sein könnte, ahnte ich nicht. Irgendwann hielt ich
es dann nicht mehr aus, und ich schrieb Vater, wie gern ich wieder zurückkäme
nach London, das ich gar nicht sehr mochte. Doch alles wäre besser als
weiterhin die Zielscheibe von Spott zu sein. Ich habe lange so getan, als seien
mir die Hänseleien gleichgültig, weil ich die Spötter auf Anraten meines Vaters
auf keinen Fall provozieren sollte. Doch es wurde immer schlimmer. Auf die Unterstützung
der Lehrer durfte ich nicht hoffen; es galt als feige, die Mitschüler
anzuschwärzen. Überdies hätte man mich nicht ernstgenommen. Ich war ein
Außenseiter, der selbst schuld war, dass er anders ist.
Bald kam ein Brief von meinen
Eltern. Sie schrieben, dass Onkel Benjamin uns alle auf seinen Landsitz in
Yorkshire eingeladen hatte und er sich freuen würde, auch Pauline und mich
kennenzulernen. Das war wie eine Erlösung. Vater versprach, mich danach nicht
wieder zurückzuschicken. Ich muss also dagewesen sein, auf Whitehurst. Und ich
habe etwas gesehen, das mir die Erinnerung geraubt hat, um die ich kämpfen
will. Mit Ihnen. Ich hätte Sie doch nicht um die Hypnose gebeten, wenn ich
wüsste, dass ich meine Familie ausgelöscht habe! In einer Hypnose kann man
nicht lügen, oder? Lassen Sie es uns noch einmal probieren, ehe sie mich
verurteilen! Ich will nicht, dass Sie so schlecht über mich denken!“
Er brach ab und wandte sich um,
die Augen übermüdet mit fünf Fingern reibend. Langsam schritt Renoir um den Jungen
herum, bis er ihm wieder gegenüber stand. Das Argument, in dem er die Hypnose
anführte, hatte ihn milde gestimmt. Valentine fürchtete sich davor, und
trotzdem unterbreitete er sie Renoir. Er hob behutsam Valentines Kinn an.
„Ist gut, Valentine. Ich muss
gestehen, dass mir der Wein wirklich zu Kopf gestiegen ist. Wir werden nach
Hause gehen, eine Nacht überschlafen und dann in Ruhe darüber sprechen.“
„Nicht nur sprechen“, negierte
der Junge. „Ich vertraue Ihnen. Ich möchte es noch einmal versuchen. Kein positives
Erlebnis diesmal.“
Schweigend stiegen sie weiter
voran. Es schneite nicht mehr, doch die Kälte hatte den verbliebenen Altschnee
zu Eis gefrieren lassen. Vorneweg lavierte Renoir, begradigte Valentine den Weg
als Geste der Vergebung für seine unbedachten Anschuldigungen.
„Was hatte es mit dem leeren
Stuhl neben Ihnen auf sich? Mitunter spähten Sie hinüber, als säße dort
jemand.“
Ein wenig verlegen zuckte
Valentine die Achseln. „Ihnen bleibt nichts verborgen, Gaspard.“
„War es Carrick Escaray?“
„Nein. Er ist doch nicht
unsichtbar. Ich kann es schlecht erklären. Eine Sache der Gewohnheit, nehme ich
an. Bei uns sagt man, dass auf leeren Stühlen der Prophet Elias Platz nimmt,
der bei Beschneidungen als Ehrengast zugegen ist aufgrund seines Eifers für den
Bund mit dem HErrn, der bei der Berit Milah bekräftigt wird. Doch in
unserem Haus lud ihn Mutter auch am Schabbat und den übrigen Feiertagen ein.
Seitdem sitzt auf leeren Stühlen der Prophet Elias. Ich hatte Angst, ihn zu
verärgern, indem ich von dem Pudding aß.“ Er lächelte. „Es ist töricht, aber es
steckt in mir, seit ich denken kann.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen