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Dienstag, 28. Januar 2014

"Was hat dich eigentlich zum *Bildnis des Grafen* inspiriert?"

Diese Frage bekomme ich häufig gestellt. Und sie ist gar nicht so einfach zu beantworten, denn ich habe keine literarischen Vorbilder im engeren Sinn. Aber ich bin fasziniert von komplexen Kriminalgeschichten und unerklärlichen Phänomenen, was nicht bedeutet, dass ich mich für Parapsychologie interessiere oder glaube, dass die Wahrheit irgendwo da draußen ist.

Als ich anfing, den "Grafen" zu schreiben, hatte ich zuvor Rennie Airths "Nacht ohne Gesicht" gelesen und war begeistert von den Protagonisten und der Dynamik zwischen dem wortkargen, vom Krieg und einer Familientragödie gezeichneten Einzelgänger Detective John Madden und dem übereifrigen Polizeianfänger Billy Styles, der in stiller Ehrfurcht zu seinem Vorgesetzten aufsieht. Die beiden waren ein seltsames, aber sympathisches Gespann, und ich habe ein wenig bedauert, dass in den Folgebänden um John Madden der junge "Rookie" nicht mehr auftaucht, der dann nicht mehr ganz so jung und unerfahren wäre. Auch die anschaulichen, aber nie weitschweifigen Landschaftsbeschreibungen und die Zeit, in der der Roman angesiedelt ist, haben mein Kopfkino angekurbelt, ganz zu schweigen von der psychologischen Komponente, die sich auf sämtliche Charaktere erstreckt - besonders auf John Madden und den Täter, der entgegen der gängigen Regel eines Krimis schon bald enttarnt wird. Dennoch wird die Geschichte auf keiner Seite langweilig, im Gegenteil.

Ich habe das Buch mehrmals und auch im Original gelesen, und jedes Mal habe ich Neues entdeckt, auf das ich beim vorigen Schmökern nicht geachtet hatte. Kurz gesagt, ich liebe diesen Roman, der bis heute zu meinen absoluten Lieblingsbüchern zählt. Vermutlich wird da so schnell nichts nachkommen...




Die ungewöhnliche Geschichte ließ mich lange nicht los, und irgendwann stand mein Entschluss fest, etwas zu schaffen, das mir ebenso viel Spaß macht. Ganz anders, natürlich, aber angelehnt an die Figur des einsamen Wolfes, der Schreckliches erlebt hat und erst durch ein Ereignis und die damit verbundene Beziehung zu Dritten wieder einigermaßen ins normale Leben zurückfindet. So war mein französischer Psychologe Gaspard Renoir geboren, den ich ins edwardianische England geschickt habe, um auf einem Herrensitz auf seinen ersten und härtesten Fall nach dem Krieg zu treffen: den schwer traumatisierten Valentine Whitehurst, Neffe und zukünftiger Erbe des Earl of Whitehurst. Valentine macht es Renoir nicht leicht, und auch der rasch aufbrausende Earl ist wenig willens, Renoir bei der Therapie freie Hand und beide - Arzt und Patient - unbeobachtet zu lassen. Doch Renoir freundet sich mit dem Gärtner des Anwesens an, der ihm vorschlägt, mit Valentine in der Abgeschiedenheit des leerstehenden Nachbargrundstückes Escaray Hall die Behandlung fortzusetzen.

Der Name Escaray ist mir im Kino aufgefallen. Die Firma, welche die Säle bestuhlt (bestuhlt - das klingt komisch, oder?^^), hieß Eskaray (und heißt immer noch so). Ich fand, das hatte einen guten Klang. Ich weiß nicht mehr, ob die Herkunft und die Geschichte meines Titelhelden zu dieser Zeit schon für mich feststanden. Sicher war, dass er diesen Namen tragen sollte. Und mysteriös sollte er sein, vielleicht sogar ein bisschen unheimlich. Schließlich gilt sein Anwesen offiziell als verwaist, nachdem es während der ersten Kriegsjahre als Lazarett gedient hatte.




Würde man mich nach meiner Lieblingsfigur im "Bildnis des Grafen" fragen, so wäre das wahrscheinlich Carrick Escaray, obwohl ich alle meine Charaktere bis auf die kleinste Nebenfigur mag. Selbst den jähzornigen Benjamin Earl of Whitehurst, der durchaus nicht völlig grundlos zu dem geworden ist, was im hohen Alter verstärkt zu Tage tritt - ein harter, verbitterter Mann, der den von der Front heimgekehrten Neffen einzig deshalb therapieren lassen will, um die Nachkommenschaft zu sichern.

Die "unerklärlichen" Elemente habe ich miteingebaut, weil ich Schauergeschichten liebe und mich selbst hin und wieder gern grusele, sei das bei einem subtilen Horrorfilm oder einem Gänsehaut erzeugenden Buch. Obendrein kam mir zugute, dass Kriegsgeschädigte häufig unter Halluzinationen und / oder erhöhter Wahrnehmung leiden. Valentine, der anfangs mit niemandem spricht, gelingt es, mit dem Grafen Kontakt aufzunehmen, und zwar auf recht ungewöhnliche Weise. Ob es sich dabei allerdings um Visionen handelt, möchte ich hier nicht verraten.

Ich bin ein Freund von offenen Enden, heißt ich liebe es, meine Leser zum Nachdenken anzuregen und sie ihre eigenen Schlüsse ziehen zu lassen. Als Leser schätze ich es wenig, alles haarkein erklärt zu bekommen. Stattdessen beschäftige ich mich gern noch eine Weile mit dem Gelesenen, lasse die Geschichte noch einmal vor meinem inneren Auge Revue passieren und auf mich wirken, sowohl als Leser als auch als Autor, wenn mich der Roman gefesselt hat. Am "Grafen" habe ich um die zwei Jahre geschrieben. Und sie waren jede Minute wert.

Mittlerweile ist der Roman mehrere Jahre alt. Trotzdem gefällt mir die Geschichte von Escaray, Valentine und Renoir noch immer. Und das kann ich nicht von jeder meiner Geschichten behaupten...


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