Ein paar unveröffentlichte Manuskripte liegen noch in meiner Schublade bzw. verlottern in den Tiefen meiner Festplatte, und irgendwie habe ich neulich aus heiterem Himmel den Nerv gefunden, eine 2008 verfasste Geschichte über einen brillanten Unfallchirurgen und dessen Schutzengel auszugraben, die ich glücklicherweise zu Ende geschrieben habe (keine Selbstverständlichkeit!).
Es war merkwürdig, darin zu stöbern. Mit ca. 240 Seiten ist sie nicht besonders lang, sondern eher kurz für meine Verhältnisse. Aber ich musste an einigen Stellen laut lachen; etwas, das mir bei meinen eigenen Arbeiten extrem selten passiert und mir fast peinlich war. Obwohl die Geschichte teilweise sentimental und auch ernst ist, kommt der Humor nicht zu kurz. Besonders süß finde ich Seraphin, den naiven Schutzengel, der sich zum ersten Mal als "materialisierter" Mensch auf der Erde mit weltlichen Gebräuchen zurechtfinden muss und dabei von einem Fettnapf in den nächsten tappt.
Hinter "Mehr Informationen" verbirgt sich die Stelle, die mich bisher am meisten amüsiert hat: ein Gespräch zwischen Seraphin und einem weiteren Schutzengel, der jedoch - im Gegensatz zu Seraphin - noch das hundertprozentige Privileg des Engel-Seins besitzt.
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Kurz
vor dem Röntgentermin erhielt er noch einmal Besuch: Geduckt, wie in Erwartung
körperlicher Züchtigung klopfte Carolin Cremer an die halbgeöffnete Tür und
hielt ihm aus einem Meter Sicherheitsabstand eine pinkfarbene Rose hin, was
wohl als Anspielung auf sein vermeintliches Techtelmechtel mit Branko zu
verstehen war. Einen so hintersinnigen Humor hätte er der bäuerlich wirkenden Caro
gar nicht zugetraut; lächelnd nahm er sie ihr ab und steckte sie zu Tinos.
„Danke.
Nett, dass du mich besuchst. Willst nicht reinkommen?“
Sie
holte ein paar Mal tief Luft und brach dann in haltloses Weinen aus.
Erschrocken bot er ihr einen Platz auf der Bettkante an. Blind vor Tränen kam
sie seiner Aufforderung nach und wäre beinahe unsanft abgerutscht; er hielt sie
fest und zog sie mit Leichtigkeit auf die Matratze. „Carolin! Was hast denn?“
„Ach“,
heulte sie, er musste die Ohren spitzen, um ihr Gestammel zwischen den
herzzerreißenden Schluchzern zu entziffern. „Herr Seraphin! Es ist alles meine
Schuld, und nun fühl’ ich mich so niederträchtig! Das ist sonst gar nicht meine
Art. Ich war so neidig auf Sie, weil... ich hab’ Sie doch gesehen mit dem
Branko im Bett am Morgen, und da war ich so wütend, dass ich Ihnen den Tod
g’wünscht hab’, egal welchen! Ich hab’ doch ned ahnen können, dass sich des so
bald erfüllen tät’! Das war ein Zeichen des Himmels, Herr Seraphin, ganz
bestimmt! Dass Sie noch leben, mein’ ich! Der Herrgott hat mich gestraft, weil
ich so schlecht ’dacht hab über Sie. Erschrecken wollt’ er mich, und das ist
ihm auch gelungen! Ich will Ihnen nicht im Weg stehen, wenns mir nur den Branko
glücklich machen! Eigentlich ist er ja auch zu alt für mich… und jähzornig ist
er und ein Macho und... ach ich glaub er passt gar ned zu mir! Des sagt mir ja
jeder, aber jetzt kapier’ ich’s endlich! Und statt Ihnen dankbar zu sein,
bring’ ich Sie fast um!“ Sie bekreuzigte sich eilig. „Ich bin so froh, dass Sie
leben, Herr Seraphin. Ohne Sie wär’n mir nie die Augen auf’gangen, und dann
wär’s zu spät gewesen. Sie haben mich vor einem schweren Fehler bewahrt, Herr
Seraphin, dafür bedank’ ich mich recht schön! Und bitte verzeihen Sie mir meine
schlechten Gedanken! Ich bin ab nächster Woche auf einer anderen Abteilung,
dann lauf’ ich dem Branko nicht mehr so oft übern Weg und stör’ Sie auch nicht
mehr!“
Bevor
er ihr antworten konnte, flitzte sie mit der Eleganz des jungen Mädchens, das
sie schließlich war, durch den Türspalt. Benommen grübelte er eine Weile über
ihre Worte. Er hätte sich gerne bei ihr für ihre Hilfe während der Operation
bedankt. Für das erste Mal am Anästhesiegerät hatte sie ihre Sache gut gemacht.
Branko war derjenige gewesen, der unverantwortlich und leichtsinnig geworden
war und sich von den Umständen zu Emotionen hatte hinreißen lassen, die im
OP-Saal eher hinderlich waren.
Nomiel,
ihr ständiger Begleiter, verharrte zu Seraphins Verblüffung im Zimmer, anstatt
ihr auf den Fersen zu folgen. Er war ein hellhäutiger, athletischer Typ mit
nackenlangem, fast schwarzem Haar, durchdringend blauen Augen und fleischigen,
aber attraktiven Zügen, die seinem
sanften Charakter gerecht wurden und den Feinschmecker verrieten, da er die Finger nicht vom Manna
lassen konnte.
Seraphin
machte eine kurze, auffordernde Kopfbewegung zur Tür hin. „Ssst!
Was ist? Hinterher. Es reicht, dass ich vom Branko getrennt bin.“
„Ja,
das dachten wir uns auch. Ich weiß nicht, ob das so ein guter Einfall war mit
Branko und dir. Der Chef meint, es wäre besser, du würdest wieder zurückkommen
und die Dinge ihren Lauf nehmen lassen. Die Caro wird sich jetzt stundenlang in
ihrem Kämmerlein einschließen, und du weißt doch, dass ich’s Eingesperrtsein
nicht vertrage. Und ihre Barbiepuppensammlung macht mich ganz nervös.“
„Ich
möcht’ noch ein bisschen Zeit haben, Nomi, sag’ ihm das bitte. Wenn die Caro
mit ihm Schluss macht, bin ich doch auf einem guten Weg, oder nicht?“
„Du
machst zu viele Fehler! Dass du uns Branko gegenüber erwähnt hast, ist nicht
mal das Schlimmste, es glaubt dir ja doch keiner! Aber sich von Maschinen
durchleuchten zu lassen, die von Menschenhand erbaut wurden, so deppert musst
erst sein! Wenn du nicht aufpasst, haben dich diese Leut’ ratzfatz am Wickel.
Die sind unersättlich in ihrem Forscherdrang, und so was wie du ist für die ein
gefundenes Fressen.“
„Eine
Woche“, bettelte Seraphin.
„Unter
der Bedingung, dass du nicht zu menschlich wirst. Du weißt, was das heißt.
Keine Einmischung, keine Untersuchungen mehr.“
„Ich
muss sicherheitshalber noch einmal geröntgt werden“, erklärte Seraphin
kleinlaut. „Branko besteht darauf.“
Nomiel
blies die Backen auf und ließ die Luft allmählich entweichen.
„Ich
weiß. Da musst du jetzt halt durch, aber danach sind diese Sperenzchen tabu, klar?
– Oh, bevor ich’s vergesse: Hier ist dein Pass! Den musst du liegengelassen
haben. Es sind zwar eigenartige Bräuche, aber was ist hier unten schon nicht
eigenartig... ein Tipp: Sorg’ dafür, dass Branko ihn nicht sieht, sonst dreht
er völlig durch.“
Er
reichte Seraphin ein in Plastik eingeschweißtes Blatt Papier, auf das er zuvor
einen neugierigen Blick geworfen hatte.
„Meine
Güte! Winzig bist geworden! Aber wenn die Frau Doktor das so gemessen hat...
Jetzt muss ich wieder gehen. Die Caro ist eben bei Rot über die Ampel. Hat noch
mal Glück gehabt, die Kleine, aber ein zweites Mal wird das nicht gut gehen
ohne mich. Ich versteh’ das nicht! Ich reiß’ mir zwei Flügel aus für sie und
sie macht immer noch ständig so ein Gemurkse. Hoffentlich wird die bald erwachsen...
ein Kreuz ist das mit den jungen Dingern heuer... und was dich betrifft: Sei
vorsichtig! Adieu!“
Damit
stürzte er pfeilschnell aus dem Fenster und war aus Seraphins Blickfeld
verschwunden. Heimweh nach seiner alten Gestalt bemächtigte sich seiner nach
Nomiels Abstecher. Er vermisste die Freunde, die Freiheit, die Unbeschwertheit.
Natürlich war Branko da, der ihm anvertraut worden war am Tag seiner Geburt,
doch es hatte eine weitere Dimension gegeben, eine, in die er nach Belieben
hatte abtauchen können, ohne Branko dabei aus den Augen zu verlieren. Auf
einmal war alles so schrecklich eindimensional, eine Tatsache, die ihn
einschränkte. Bisher hatte er wenig ausrichten können, das musste er zugeben.
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