Der Engel Seraphin ist allerdings nicht befugt, in die Geschehnisse einzugreifen bzw. sie zu verändern - er kann nur Impulse geben, um den freien Willen der Menschen nicht zu beeinflussen. So nistet er sich bei dem anfangs skeptischen Branko ein und sorgt für Turbulenzen, die weder von ihm selbst noch von seinem Auftraggeber beabsichtigt waren.
In der folgenden Leseprobe sorgt Seraphin erst einmal für klare Verhältnisse unter Kollegen.
Kapitel
4
Der restliche Vormittag verlief ohne größere Unfälle. Ein
aufgeschrammtes Kinderknie, eine überdehnte Sehne, nichts Nennenswertes.
Der OP wurde nicht genutzt,
nachdem man den unseligen Herr Bäumler in die Pathologie überführt hatte.
Branko konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass sein zweiter Schatten
dahintersteckte, wenn er auch nicht sicher war, wie er das bewerkstelligte.
Wohin er auch ging oder man ihn rief, Seraphin blieb in seiner Nähe und verlor
kein einziges Mal das aufmunternde Lächeln, sobald ihre Blicke sich trafen.
Besonders auf kleine Patienten
übte Seraphins unaufdringliche Gesellschaft eine nahezu therapeutische Wirkung
aus; er saß nur da und zwinkerte ihnen zu, und sofort verwandelten sich die
greinenden Gesichtchen in ein einziges Strahlen der Glückseligkeit. Ähnlich
hatte auch Jana reagiert, obwohl es stimmte, was Tino über ihren Charakter
hatte verlauten lassen. Sie war ein vorsichtiges, fast ängstliches Kind, das
Fremden erst einmal die kalte Schulter zeigte und sie damit nicht selten
brüskierte. Zu Seraphin hingegen hatte sie für ihre Verhältnisse bereits bei
der ersten Begegnung zarte Bande geknüpft, worüber niemand erstaunter war als
Branko selbst.
Gegen Mittag durchforstete er
die Kantine und den Aufenthaltsraum nach Caro, er war drauf und dran, sie per
Lautsprecher in sein Büro zitieren zu lassen, weil sie nirgends aufzutreiben
war. Wie vom Erdboden verschluckt. Seraphin betrachtete ihn kummervoll. „Die
Caro ist weg“, erklärte er das Offensichtliche, als Branko ihn wie
selbstverständlich nach ihr fragte. Um Worte war Seraphin nie verlegen, soviel
hatte er in der Zwischenzeit begriffen. „Sie wollt’ doch kündigen.“
„Das hat sie wirklich getan?“
Ungläubig starrte er Seraphin an. „Schaut ihr gar nicht ähnlich, Nägel mit
Köpfen zu machen.“
„Vielleicht ist’s besser so“,
tröstete Seraphin ihn auf dem Weg zur Essensausgabe. „Ihr habt so wenig
gemeinsam. Auf Dauer geht so was selten gut.“
„Ach. Da spricht der Experte,
was?“ Der Sarkasmus in seinem Ton war nicht zu überhören, als er sich zu seinem
Wiener Schnitzel zwei Ladungen Kartoffelbrei auf den Teller schöpfte und nach
einem freien Tisch Ausschau hielt.
„Du hast sowieso nicht vorg’habt,
sie zu heiraten, oder?“
„Ja sag amal...“ Branko
schnappte nach Luft. „Wir leben doch nicht im Mittelalter. Wenn’s aus ist, dann
soll’s so sein, aber doch nicht jetzt! Solang sie mir gefällt, ist unsere
Affäre doch kein Verbrechen!“
„Nicht? Dann überleg’ mal, auf
welcher Basis du sie kennengelernt hast. Sie schwärmt für deine Fertigkeit als
Chirurg, du repräsentierst was für sie und umgekehrt sie für dich, was ihr
beide von euch selber nicht haben könnt. Du die Erfahrung, sie deine Jugend.
Aber die ist passé, und ihre Erfahrungen muss die Caro selber machen. Dass sie
sich davor drückt, indem sie sich als dein Anhängsel produziert, hat mit Liebe
wenig zu tun. Eher mit Bequemlichkeit.“
„Wie redest du denn mit mir?!“
Er zerknüllte nervös den Pappbecher und verbrühte sich den Mund am
üblicherweise lauwarmen Kaffee.
„So wie schon lang mal jemand
mit dir hätt’ reden müssen. Du bist nämlich auch nicht fehlerfrei. Irgendwie
hat sie schon recht gehabt, die Caro. Ein Macho bist, und das nicht zu knapp.
Sie fühlt sich nicht ernst genommen von dir, und auf der anderen Seite
erdrückst du sie mit deiner Fürsorge, von der du annimmst, dass es Liebe ist.
So ein kleines Hascherl, das braucht eine starke Hand, gell? Ich glaub, du
unterschätzt sie. Traust ihr zu wenig zu.“
„Na gut, und was soll das alles?
Was muss ich tun, um sie wiederzukriegen?“
„Nix. Lass sie einfach in Ruh.
Du bist ein verheirateter Mann! Deine Frau verzeiht dir, aber du musst schon
was tun dafür, verstehst? So ein Seitensprung, den kehrt man nicht einfach untern
Tisch. Branko!“ Emphatisch griff er über den Tisch und hielt Brankos Hand fest.
Branko fröstelte. Die Berührung ging ihm unter die Haut und sandte trotzdem
paradoxerweise Trost aus. „Du willst doch nicht enden wie der Herr Bäumler
heut’ morgen, oder? Hinter jedem Weiberrock hersteigen und mit Erreichen vom
Ruhestand in die Grube fahren!“
Neuhausen wehte in die Cafeteria
und winkte ihnen zu. Mittlerweile hatte er sein Dauergrinsen wieder angeknipst
und in seine gefälligen Züge eingegraben.
„Ist noch ein Platzerl frei bei
euch?“
„Ich wart’ auf den Tino“,
versetzte Branko sauertöpfisch. „Also nein.“
„Der isst doch immer pünktlich
um halb zwei“, schmunzelte Neuhausen und zog dickfellig einen Stuhl heran.
Verwundert pendelte sein Blick zwischen den ineinandergeschlungenen
Männerhänden hin und her, Branko zog seine zurück.
„Stör’ ich? Schiebst nachher ein
flottes Nummerchen zu dritt? Alle Achtung! Apropos. Warum stellst du mich
deinem neuen Freund denn nicht vor? Oder spricht er unsere Sprache nicht? Ich hab
Sie heut’ früh in der Notaufnahme gesehen, gell?“ Zähneknirschend schüttelte er
den schwarzhaarigen Kopf, er trug das Haar kragenlang wie ein alter 68er. In
Berlin hatte damals der Bär gesteppt, war einer seiner meiststrapazierten
spitzfindigen Ergüsse an Wortakrobatik. Allerdings hatte er während besagter
Ära schon fünfzehn Jahre in Bayern gelebt.
„Das war eine unschöne
Geschichte, das. Unschön, wirklich. Hätt’ sich vermeiden lassen müssen.“
„Der Mann war nicht zu retten“,
erklärte Seraphin ernst. „Sie dürfen Branko keine Vorwürfe machen.“
„Oh! Sie sind ein Kollege! Dann
entschuldigen Sie bitte! Nichts liegt mir ferner als seine Kompetenzen
anzuzweifeln.“
„Das haben Sie aber“,
insistierte Seraphin, Branko lehnte sich zurück und machte entsprechende Zeichen,
sich nicht auf eine Debatte einzulassen, die ohnehin für die Katz war. Doch
Seraphin geriet ordentlich in Fahrt, er verteidigte ihn so leidenschaftlich, dass
ihn Branko unterm Tisch ans Schienbein stieß, was er jedoch vor lauter Ärger
über die Ungerechtigkeit nicht realisierte. Seine Stimme indes harmonisierte in
keiner Weise zu seinem Plädoyer für Branko, sie klang monoton, klar und
unaufgeregt.
„Da Sie gemeinhin als
liebenswerter Spaßvogel bekannt sind, Herr Dr. Neuhausen, drückt man bei Ihnen
gerne mal ein Auge zu, was ja ganz ok ist. Denken Sie nicht, ich habe etwas
gegen Humor und Witze erzählen am Arbeitsplatz, aber wie schaut das denn mit Missgunst
und Ausländerfeindlichkeit aus?“
Mit großen Pupillen stierte
Neuhausen in Seraphins, es war, als spießten sie sich gegenseitig buchstäblich
auf. Das Unbehagen war Neuhausen deutlich anzumerken, er scharrte mit den Füßen
und hätte sich wohl am liebsten aus dem Staub gemacht, doch er schien wie
festgenagelt und nicht fähig, den Blick von Seraphins Augen abzuwenden.
„Wie?“ hakte er schleppend nach,
völlig gebannt durch den intensiven Blickkontakt. „Worauf wollen Sie hinaus?
Ich hab’ nicht den leisesten Schimmer... ist das auf deinem Mist gewachsen,
Branko?“
Branko schüttelte den Kopf. Was
Seraphin im Schilde führte, versprach spannend zu werden. Der quirlige Kollege
war Wachs in seinen Händen. „Ich hab ihm nichts erzählt“, sagte er beiläufig.
Neuhausen schluckte, auf seiner hohen Stirn
glänzte Schweiß. Unbeeindruckt von der Bredouille, in der sich sein Gegenüber
wand, fuhr Seraphin fort: „Sie mimen den netten Kumpel für jeden auf der
Station, aber insgeheim zerfrisst Sie der Neid auf Ihren Vorgesetzten. Auf
Branko Schuster. Weil er fleißiger ist und besser mit Dr. Wolf auskommt als
Sie. Sie wollen schließlich auch gefallen, aber da ist immer der Jugo, der Kanake,
der Ihnen die Butter vom Brot nimmt. Immer ist er Ihnen eine Nasenspitze
voraus. Das ist aber kein Wunder, denn Sie sind nun mal nicht so wissbegierig
wie er.“
„Finn!“ zischte Branko mahnend
und stupste ihn abermals unter dem Tisch. „Hör’ auf!“ Die Schimpfwörter, mit
der er ihn eben beschrieben hatte, taten weh, und er konnte sich nicht
vorstellen, dass der allseits beliebte Neuhausen sie auch nur dachte. Gut, ihr
Verhältnis zueinander war von Distanziertheit geprägt, aber weiter brauchte
eine Arbeitsbeziehung unter Männern auch nicht hinausgehen. Obendrein hatte
Branko nie Feindseligkeit von Neuhausen zu spüren bekommen. Brodelte es
tatsächlich unter der friedfertigen Oberfläche, wie Seraphin implizierte? Und
das nur, weil er nicht in Deutschland geboren war? Sein Vater war Deutscher
gewesen, jedoch mit seiner Mutter nach Split gezogen. Erst in den sechziger
Jahren hatte der Vater eine Anstellung in München angeboten bekommen und die
Familie nachgeholt.
Er warf einen vorsichtigen Blick
auf seinen Kollegen. Dessen kräftige Augenbrauen zogen sich zu einem Strich
zusammen, er befeuchtete seine Lippen. In seiner Mundhöhle breitete sich
Trockenheit aus, so dass er leicht hüstelte. Branko bemerkte die feuchten
Fingerabdrücke auf der Papierserviette. Seraphin hob kurz die Hand, um
anzudeuten, dass er noch nicht fertig war.
„Das wär ein bisschen leichter
zu ertragen, wenn’s ein deutscher Arzt wär’, nicht? Dann wär’ er Ihnen
wenigstens ebenbürtig, aber so stammt er ja aus einem unzivilisierten Land, in
dem Kriege herrschen und viele Leute weder lesen noch schreiben können. Denken
Sie doch mal ein wenig zurück, ein kleines bisschen bloß, und Sie werden mit
Erstaunen feststellen, dass es in Ihrem hochgelobten Deutschland bis vor
sechzig Jahren noch ganz ähnlich aussah. Schlimmer sogar, weil die Menschen
sich zu etwas haben hinreißen lassen, was ganz Europa zerstört hat. Fremde
Menschen mit fremder Kultur, Herr Neuhausen (er mied die respektvolle
Titelanrede), sind in jeder Hinsicht eine Bereicherung. Sie zu verachten oder
ihnen das Leben schwerzumachen ist genauso eine große Sünde wie die Ausrottung
der vielen Millionen Menschen in Ihrem Dritten Reich. Damit stellen Sie sich
auf dieselbe Stufe wie Ihren sogenannten Führer. Und eines sage ich Ihnen, Herr
Neuhausen: Wenn Sie es wagen, Branko bei Dr. Wolf-Horvath anzuschwärzen, indem
Sie Lügen über ihn verbreiten und Ihre eigene Nachlässigkeit von heute morgen
unter den Tisch kehren, werde ich die Sache geraderücken. Und das wird
Konsequenzen für Sie haben. Ihre hinterhältige Art vergiftet das Klima nicht
nur unter Ihnen beiden. Der Mann wäre ohnehin gestorben, aber Sie
hätten sich ruhig ein bisschen mehr Mühe geben können und sich nicht wie jedes
Mal auf Dr. Schuster verlassen, der Ihnen die Kastanien aus dem Feuer holt.
Denn im Gegensatz zu Ihnen erledigt der seinen Job gewissenhaft.“
Branko senkte resignierend den
Kopf auf die Tischplatte. Er war ruiniert. Jetzt hatte Neuhausen allen
Grund, ihm das Leben zur Hölle zu machen, ihn zur Frührente zu mobben! Er musste
ja denken, Branko hätte es seinem neuen Freund so erzählt, ihn verpetzt. Und
das, wo er Ressentiments dieser Art nie an Adrian Neuhausen entdeckt hatte. Zu
Meinungsverschiedenheiten kam es natürlich häufig, dabei war jedoch niemals ein
böses Wort über seine Herkunft gefallen. So primitiv schätzte er Neuhausen
nicht ein. Aber war vielleicht doch etwas dran an Seraphins abenteuerlicher
These, hatte Neuhausen zwei Gesichter, eines, das scherzte und herumalberte,
und eines, das sich vor Hass verzerrte, sobald Branko ihm den Rücken kehrte?
Jedenfalls war Branko überrascht, als er ein
leises Ächzen vernahm. Abrupt hob er den Kopf. Neuhausens Unterlider waren
geflutet. Der lustige Prahlhans heulte wie ein Schlosshund. „Das wollte ich
nicht!“ versicherte er. „Es tut mir leid! Es stimmt, ich war ungerecht, und ich
habe Branko nie gemocht, und das nur weil er anders ist als ich! Ich habe den
Kollegen und Dr. Wolf unschöne Dinge über ihn und die Lehrschwester erzählt, weil
ich gehofft habe, er entlässt ihn dann! Außerdem war ich ja selber scharf auf
die Frau Cremer! Das war eine billige Masche und sehr selbstsüchtig, ich seh’
es jetzt ein! Ich muss dich um Entschuldigung bitten, Branko! Sie ist es nicht
wert, angenommen zu werden, aber wenn du großzügig bist und ein Herz hast, dann
gestattest du mir, es wiedergutzumachen!“
Seine Reue war echt und nicht
gespielt, obwohl man das bei einem Showtalent wie Adrian Neuhausen nur schwer
beurteilen konnte. Tränen auf Knopfdruck jedoch wäre zuviel des Guten. Zudem
sagte ihm Seraphins Blick, dass er es ehrlich meinte.
Etwas verlegen, weil die
Tischnachbarn schon schauten, tätschelte er seinen Arm. „Ist schon gut, Adrian.
Ich verzeih’ dir. Brauchst nichts wiedergutmachen. Wir sind doch ein gutes
Team, hm?“
„Ach, Branko!“ Neuhausen
schluchzte auf, während er nach dem Taschentuch fingerte, das Branko ihm
reichte und schnäuzte lauthals hinein, bevor er das Gesicht an Brankos
Brustbein barg. „Hast du den Plumps gehört? Mir fiel soeben ein Herz vom
Stein!“
Pikiert entzog sich Branko
seiner Umklammerung. „Schön. Lässt mich jetzt dann bitte zu Ende essen?“
Nach einem Seufzer der
Erleichterung und einem anschließenden liebevoll gemeinten, aber schmerzhaften
Stoß an Brankos Schulter mit den Fingerknöcheln entfernte sich Neuhausen.
Konsterniert wandte sich Branko an Seraphin, der an seiner Apfelschorle nippte,
als sei nichts gewesen. „Woher hast’n das gewusst? Hast du irgendwelche
hellseherischen Fähigkeiten? Ich hab das immer für Mumpitz gehalten, aber man
soll ja nie nie sagen... Des war mir selber ganz neu, dass der Neuhausen sich
mit rassistischem Gedankengut rumschlagt. Der hat doch eine Visage wie ein
Baby.“
„Grad die sind oft gefährlich“,
versetzte Seraphin gleichmütig. „Vergiss aber nicht, dass du in eurer Beziehung
auch Zugeständnisse machen musst, wenn’s langfristig funktionieren soll. Dass
der Neuhausen aus Berlin kommt, dafür kann er ebenso wenig wie du für deinen
Geburtsort.“
„Hmmm...“ brummelte Branko. „Und
du hast schon wieder das Essen vergessen. Ist das nicht üblich, da wo du
herkommst? Weiß nicht, ob ich dich dann je besuchen möcht’ und deine
Kultur eine Bereicherung ist.“ Er stand auf und schlenderte zur Theke, um für
Seraphin ein Menü zusammenzustellen. Der Sinn fürs Praktische ging dem klugen
Engel nämlich vollkommen abhanden.
Auf dem Rückweg brach er
plötzlich in Tränen aus und schämte sich. Weniger seiner Gefühlsaufwallung als
der Erkenntnis, dass er nicht besser war als Neuhausen. Wie oft hatte er dessen
unbeschwerten Charakter beneidet und gleichzeitig verflucht!
Rasch stellte er das Tablett auf den Tisch und
verschwand in der Toilette. Vor den Kabinen erwartete ihn Seraphin, die Arme
vor der Brust verschränkt, die Hüften leicht vorgeschoben, als stünde er schon
eine ganze Weile da. Aber das war doch unmöglich!
Branko hatte gar nicht bemerkt, dass
er nicht mehr an seinem Platz saß; tatsächlich hätte er Stein und Bein
geschworen, ihn dort noch vor zehn Sekunden gesehen zu haben. Verschwommen
zwar, aber es war eindeutig Seraphins unverwechselbar hünenhafte schlanke
Gestalt gewesen. Verlor er allmählich den Verstand?
„Du brauchst dich nicht zu
schämen, Branko“, beruhigte ihn Seraphin. „Du hast Fehler wie jeder Mensch.
Verrückt bist du auch nicht.“
„Wer bist denn du?“ hauchte Branko
und trat einen Schritt zurück. „Was ist das für ein zwielichtiges Spiel, das du
da treibst?“
„Ich spiele nicht. Dafür ist die
Sache viel zu ernst. Ich bin hier um zu helfen. Aber scheinbar kann ich dir das
hundertmal sagen, du willst mir ja nicht glauben. Darum zeig’ ich dir’s halt.“
„Indem du meinen Kollegen
bloßstellst?“ Verflixt, seine Augen waren verräterisch gerötet, er gab keine
vorteilhafte Figur ab, wie er sich so flüchtig im Spiegel betrachtete. Sicher
kannte der Mann vor ihm den Grund. So wie er alles erkannte und durchschaute.
Unheimlich war das, regelrecht gruselig.
„Das war nötig“, parierte
Seraphin. „Irgendwann hätte er es dich spüren lassen. Und lange hätte dein
geschätzter Dr. Wolf nicht mehr durchgehalten. Dein Kollege hat ihn mürbe gemacht
mit seinen ständigen, aber haltlosen Anschuldigungen gegen dich. Bald hätte ihm
deine Abstammung als Kündigungsgrund genügt.“
„Dem Theo?“ Vor Bestürzung
klappte sein Kiefer herunter. Seraphin stieß sich vom Spülbecken ab und nickte.
Dicht vor Branko blieb er stehen. Auf seinem Kinn spross immer noch kein
Härchen, obwohl er ihn nicht mit einem Rasierapparat hatte hantieren sehen.
Überhaupt war es merkwürdig, dass er kein Gepäck bei sich trug. Keinerlei
Habseligkeiten bis auf die Kleider am Leib. Bevor er ihn spontan danach fragen
konnte, räumte Seraphin seine Zweifel bezüglich des unbescholtenen Dr.
Wolf-Horvath beiseite.
„M-hm. Damit er sich nicht immer
und immer wieder von Herrn Dr. Neuhausen piesacken lassen muss. Wenn’s um das
eigene Wohl geht, zählen Professionalität und Einsatzvermögen von guten Leuten
wenig.“
„Und woher weiß ich sicher, dass
damit jetzt Schluss ist? Ich mein’, ich brauche meine Arbeit... allein der
Unterhalt für meine Tochter, die Miete...“
„Keine Sorge. Der Neuhausen ist
ein für alle Mal kuriert von seinem Fremdenhass.“
Ein älterer Mann, den Branko als
früheren Patienten identifizierte, betrat die Toilette und runzelte die Stirn.
„All’weil nur Eane Gaudi im Kopf. Und dann a no’ mit am Mannsbuid! Pfui Deifi
sog i“, grantelte er und ließ die Pissoirs demonstrativ links liegen, um sich
wie zum Schutz vor Brankos Ausschweifungen in einer Kabine einzuschließen.
„Besser als gar keinen
hochkriegen, gell, Herr Finkelmayr?“ spöttelte Branko ihm nach. Diesmal war es
Seraphin, der rügte. „Branko! Der Herr Alois Finkelmayr hat ein sehr aktives
Sexualleben.“
Das Lachen darüber, dass er es
gar nicht so genau hatte wissen wollen, blieb Branko im Hals stecken, als er
gewahr wurde, dass Finkelmayrs Schlafzimmer wahrscheinlich nicht das einzige
war, in dem sich Seraphin heimisch fühlte. Wer konnte sagen, wie oft er ihn
bereits bespitzelt hatte, da er doch ‚zu ihm gehörte’. Wenn nicht direkt vor
Ort, dann vielleicht diskret mit dem Fernglas. Der Gedanke ließ ihn schlottern,
er spürte, wie ihm die dalmatinische Küstenbräune aus dem Gesicht sackte.
„Woher...?“
„Och“, sagte Seraphin leichthin.
„Wir gehen in derselben Drogerie einkaufen.“ Damit schien für ihn alles geklärt
zu sein.
„Der Finkelmayr kauft Kondome?“
vergewisserte sich Branko kritisch. „In seinem Alter? Ich mein’, seine Frau hat
die Menopause doch längst hinter sich...“
„Gleitmittel“, gab Seraphin
ungeniert Auskunft. Die Geschichte war nur halb erfunden; als Nachbarn
begegneten sich Branko und sein Patient gelegentlich in der Drogerie im Erdgeschoss
ihres Wohnhauses. Dass man dabei hin und wieder einen Blick in den Korb der
anderen Kunden warf, konnte einem ja nicht verübelt werden. „Er scheint sehr
glücklich zu sein mit seiner Frau.“
Branko schüttelte den Kopf. „Du
bist mir einer“, sagte er ruppig und doch fast liebevoll. „Und was ist mit dir?
Glücklich verheirat’ bist nicht, sonst hätt’ deine Frau dich längst als vermisst
gemeldet. Aber von einer Familie hast gesprochen beim Theo. Wo wohnt die denn?
Ich würd’ die Leut’ gerne mal kennenlernen, die so einen Sonderling
hervorbringen, weißt.“
„Du gibst nie auf, oder?“
erwiderte Seraphin lächelnd. „Na gut. Normalerweise dürfte ich das nicht
verraten, aber du lässt mir ja keine Wahl. Meine Familie hat keinen festen
Wohnsitz, wir sind überall. Sehen kannst du sie nicht. Dass du mich siehst, ist
eine Ausnahme, weil mir für kurze Zeit erlaubt ist, dein Leben ein bisschen
mitzubestimmen. Eigentlich habe ich bisher sehr selten eingriffen. Deshalb ist
alles so neu für mich. Ich bin sozusagen frisch ‚materialisiert’, wie das in
eurem Jargon heißt... und Mensch zu sein, ist gar nicht so leicht wie ich
gedacht hab.“
„Das ist doch paranoider
Quatsch!“ fuhr ihm Branko ins Wort und packte ihn am Mantelaufschlag, um ihn
über den Korridor zur Inneren zu schleifen.
„Was hast du vor?
„Dir zeigen, wie menschlich du
bist! Ich hab’ die Faxen langsam dicke! Märchen erzählen kannst meinetwegen
kleinen Kindern, aber mich für dumm verkaufen, das ist doch das Letzte!“
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