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Dienstag, 18. Juni 2013

"Das vergessene Kind" ~ John Matthews

Manchmal habe ich richtig Glück: Diesen über 500 Seiten spannenden Krimi habe ich von einer lieben Nachbarin bekommen, die gelegentlich gebrauchte Bücher bei mir vorbeibringt, damit ich sie entweder lese oder zu Kleingeld auf Booklooker mache. Letzteres ist bei ihren Büchern meist der Fall, da es sich bei der Lektüre im Gros um Frauenliteratur oder stark politisch gefärbte Thriller handelt. Beides nicht so wirklich mein Genre. 





Handlung und Meinung: "Das vergessene Kind" von John Matthews hat jedoch meine Neugier geweckt - es geht nicht um Liebesgedöns und politische Verschwörungen (nicht vorrangig, zumindest), dafür um einen mysteriösen elfjährigen Jungen, der bei einem Verkehrsunfall Mitte der 1990er Jahre seine Eltern verliert und während der Therapie unter Hypnose durch einen Psychologen beginnt, Französisch im südlichen Dialekt zu sprechen, ohne die Sprache zu kennen. Das soll es tatsächlich geben: man nennt dieses Phänomen "Xenoglossie." Der englische Junge, Eyran, erzählt von einem weiteren Buben in seinem Alter, der in seinen Träumen verspricht, Eyran zu helfen, die Eltern zu finden, mit deren Tod sich Eyran nicht konfrontieren will. "Gigo", wie er seinen Freund bezeichnet, hat scheinbar dasselbe Schicksal erlitten und fühlt sich solidarisch mit Eyran. 

Der Psychologe Lambourne bittet eine Parapsychologin aus den Staaten um Hilfe, und bald finden sie heraus, dass es keineswegs Unsinn oder Geltungssucht ist, was Eyran unter Hypnose erstaunlich detailliert berichtet: 1963 wurde "Gigo" unter nie aufgeklärten Umständen in einem Weizenfeld vergewaltigt und so schwer verletzt, dass er wenige Tage später starb - sein richtiger Name lautet Christian Rousselot. Damals wurde der junge Gendarm Dominic Fornier mit dem Fall betraut. Als Täter kommt ein verdächtiger Landstreicher in Frage, doch dessen Schuld konnte nie eindeutig bewiesen werden. Dennoch wird er verhaftet und kurzerhand ein Prozess gemacht: der Mann verbringt sein restliches Leben hinter Gittern.

All die Jahre nagt der Fall an Dominics Gewissen. Er heiratet Christians Mutter, nachdem deren Mann sich aus Kummer um den Tod des geliebten Sohnes das Leben nahm (auch die Beziehung Dominic - Monique kommt nicht zu kurz und ist sehr schön beschrieben). Der mutmaßliche Täter hatte in der Verhandlung von einem grünen Sportwagen in der Nähe des Tatorts geredet, so dass Dominic Fornier nicht umhin kann, zu glauben, den Falschen verhaftet zu haben. Für den Leser steht der wirkliche Täter übrigens von Anfang an fest, aber das tut der Spannung keinen Abbruch - im Gegenteil.

Als die Parapsychologin Marinella und Lambourne sich dreißig Jahre später aufgrund einiger älteren Zeitungsartikel mit ihm in Verbindung setzen und er nach England eingeladen wird, ist er zunächst skeptisch, doch mehrere Indizien lassen darauf schließen, dass Eyran und Christian in der Tat so etwas wie Seelenverwandte sind. Doch kann man dem schwer traumatisierten Jungen und seinem "zweiten Ich" Christian zumuten, einen Mord zu schildern - noch dazu den eigenen?

Mit der Erzählperspektive hatte ich zunächst Probleme, da sie rasch gewechselt wird und ziemliches Tempo ins Buch bringt - ich bevorzuge eigentlich ruhige Romane. Auch das Thema bzw. das Tatmotiv an sich ist schwer verdaulich: ein hochangesehener Anwalt und spätere Politiker steht auf junge Knaben und besucht selbst nach der Mordtat ungestraft einschlägige Etablissements. Kein heißes Eisen wird ausgelassen: Schießereien in Bars, Erpressung, Schmiergeldaffären. 

Fazit: Und trotzdem liebe ich dieses Buch. Die "Guten" sind sympathisch (mit Abstrichen nur die publicity-geile Marinella Calvan, deren größter Wunsch es ist, bei Ophrah Winfrey Lorbeeren einzuheimsen und somit ihrem Beruf zu gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen), die "Bösen" verachtenswert, und was mich besonders fasziniert hat, waren die psychologische Komponente, die sorgsame Recherche und das lebendige Flair der verschiedenen Zeitepochen von 1960 zu den 1990er Jahren. Ich konnte jeden Ort, jede Begebenheit bildhaft vor mir sehen (was nicht immer positiv war), und selbst die Gesichter der Protagonisten nahmen trotz sparsamer Personenbeschreibung Gestalt an. Nicht zuletzt sorgt der originelle und brisante Plot dafür, dass man "Das vergessene Kind" kaum aus der Hand legen kann. Ein Muss fürs Freibad, Baggersee oder Balkonien.

Bewertung: Volle Punktzahl!

Bildquelle: matuska / Pixabay





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